Dienstag, 26. November 2013

Der Himmel ist mitten unter uns

Gedanken zum Tod meines Bruders  
Der Himmel ist mitten unter uns. Himmel und Erde sind nicht getrennt,  Erde kann nur sein, weil es den Himmel gibt. Geburt und Tod sind die Pforten des Himmels zur Erde und in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod leben wir dieses Leben.  Auf unserem Weg auf der Erde durchwandern wir viele Stationen , Kindheit, Ausbildung, Beruf, Ehe, Familie – Was bleibt von uns auf dieser Erde  sind nicht irdische Güter, Rang, Macht Ansehen,  das alles zerfällt zu Staub, so wie wir selbst zu Staub werden. Was bleibt  sind unsere Spuren der Liebe, die wir auf unserem Weg durch das Leben hinterlassen. Liebe ist die stärkste Äusserung des Lebens die wir wahrnehmen und ausüben  können. Liebe ist nicht dem Gesetz des Wandels unterworfen,  sie ist ein Teil des Himmels mitten unter uns. Auf diese Stationen der Liebe im Leben meines Bruders, der empfangenen und der gebenden möchte ich einige Blicke werfen.
1943 im August hat Dich unsere Mutter in Ranis geboren. Sie war gerade 40 Jahre alt geworden.   Unsere Mutter hat mit grosser Liebe an Dir gehangen. Es warst Du, der  1945 vor Einmarsch der Russen als Jüngster   in den Armen der Mutter vor den Russen floh. Erst  in den beiden kommenden Jahren konnte sich die Familie in Reinbek  wiedervereinen. Es waren ganz harte Nachkriegsjahre, die wir erlebten, wir waren so verhungert, dass wir 1947 vom Roten Kreuz in die Schweiz geschickt wurden um wieder etwas zu Kräften zu kommen. Trotzdem fühlten wir uns nie allein, wir wussten uns in der Liebe unserer Eltern geborgen,  diese Liebe hat eine tiefe Spur in Dir für Dein späteres Leben hinterlassen, ein Kind, das geliebt , und dessen Liebe nicht enttäuscht wurde, erhält die gleiche Kraft , Liebe zu geben.
Wir hatten  dann 4 wunderbare Nachkriegsjahre in Mailand, lebten mit unseren Eltern und gingen dort zur Schule. Du warst 11 als wir von dort versetzt wurden,  das waren warme und geborgene Jahre im Elternhaus, es waren aber auch die bewussten Jahre mit den Geschwistern, die für unsere Beziehung wichtig waren. Du warst natürlich immer unserer jüngster Bruder, besonders umhegt von den Eltern und beschützt von den grösseren Brüdern.
Nach einem kurzen Gastspiel in Bonn gingen dann unsere Eltern nach Kopenhagen. Erst sollten wir beide auf das Internat in Plön in Holstein, aber auf Dein inständiges Bitten durftest Du mit nach Kopenhagen und dort zur Schule gehen, Du warst erst 13  und brauchtest noch die Wärme des Elternhauses.  Die Wege der Brüder trennten sich in den verschiedenen Schulen. Dir aber waren noch  4  weitere Jahre im Elternhaus vergönnt, was für Deine innere Entwicklung von grosser Bedeutung war. Es war diese Zeit, in der sich Dein besonderes Verhältnis zu unserem Vater herausbildete, dem Du fortan immer am nächsten standst.
1961 zogen die Eltern wieder nach Bonn. Auch dort wohntest Du noch bei Ihnen und fingst an Jura zu studieren. Deine enge Verbindung zum Elternhaus und die Liebe der Eltern zu ihrem Jüngsten prägten Deine Jugend und gaben Dir die Fähigkeit,  mit Vertrauen und Selbstbewusstsein  durch das Leben zu gehen.  Vor dieser Liebe, die wir Brüder von unseren Eltern empfangen haben und vor unseren Eltern verneigen wir uns in Dankbarkeit.
1969 starb  unser Vater, ich weiss, dass Dich das  sehr getroffen hat, er hatte einen wichtigen Platz in Deinem Herzen und der Tod  konfrontierte Dich zum ersten Mal.  Während Deiner Bonner Zeit in der Du das Jurastudium und  die Attacheeausbildung  im Auswärtigen Amt zum Abschluss brachtest  hattest Du eine langjährige Verbindung mit Konstantins Mutter die Du   heiratetest. Aus dieser Verbindung ging Konstantin hervor, und ein kleiner totgeborener Bruder der bei Euch immer unvergessen blieb und im Grab unserer Eltern mitbegraben wurde und auch jetzt hier mit den Eltern in Stechow liegt.  Es sind diese Kinder, die Zeugnis unserer Liebe sind, Menschen mögen auseinandergehen aber die Liebe bleibt  in unseren Kindern sichtbar. Ich verneige mich  vor Konstantin, seiner Mutter, die ihn grossgezogen hat und dem kleinen Bruder, der nicht leben sollte, in Euch lebt die Liebe Eurer Eltern weiter.  Besonders danke ich Konstantin, der die schwere Situation zwischen seinen Eltern ertragen musste, dass er unverbrüchlich zu beiden Elternteilen stand , er ist mir als mein Patensohn besonders ans Herz gewachsen.

In Madagaskar, wohl einer Deiner schönsten Auslandsposten,  lerntest Du Christiane kennen. Christiane lehrte an der dortigen  Universität Kernphysik.  Da habe ich eine wirklich grosse Liebe zwischen Euch beiden erlebt.  Ihr heiratet und aus der Verbindung ging Adrian hervor, das waren goldene Jahre voller Glück.  Ihr lebtet in Tokio als kleine Familie und es war dort, als Christiane von ihrer Krankheit erfuhr.  Zu früh  wurde Christiane von Deiner Seite gerissen und liess Dich mit dem kleinen Adrian zurück. Adrian war damals 10 Jahre alt. Er erinnert mich in so vielem an seine Mutter, an ihre Ruhe, ihre Liebenswürdigkeit, ihre Intelligenz.   Ich denke noch oft an die Beerdigung in den Bergen, in denen sie ihr Haus hatte,  wo sie auf einem kleinen Bergfriedhof bestattet liegt, und der Pfarrer über den Psalm sprach, ich schaue auf zu den Bergen von denen mir Hilfe  kommt,  Du standst wie versteinert, so voller Trauer, so voller Schmerz, fassungslos vor der ungeheuren Lücke, die der Tod von Christiane in  Eurer kleinen Familie hinterlassen hatte.  Ich verneige mich heute vor Adrian und vor Christiane,  Deine  Liebe zu Christiane hat deutliche Spuren hinterlassen.
Von den Bergen kam die Hilfe,  aus dem fernen Japan trat Junko in Dein Leben ein.  Dieser unabhängige Geist, der sich gegen Familie und Tradition mit eisernem Willen ihren Weg als Opernsängerin bahnte.  Du hast das Herz dieses stolzen  Menschen erobert.  Euch vereinte noch einmal eine späte reife Liebe, Ihr tatet Euch gegenseitig gut,  und  vor allem  Junko fand in Adrian den Sohn, der ihr in Ihrem Leben noch fehlte. Euch vereinte nicht nur Eure Liebe, sondern auch die Musik, und vor allem Adrian, dem Junko ihre volle Mutterliebe schenkte. So hattet Ihr einige wunderbare Jahre zusammen,  in  Thailand und in Bern und und später  in Berlin und Tokio.  Junko, Du hast Dich selbst übertroffen, als Du am Krankenbett von Andreas Tag und Nacht wachtest,  noch im Koma hast Du Andreas  Hände und Füsse massiert und für ihn gesungen.  Wenn Deine Töne sein Ohr trafen,   bewegten sich seine Augen, er konnte Dich hören.  Auf den Schwingen Deiner Musik ist er hinübergeglitten in das andere Land, das wir den Himmel nennen.  Junko, ich verneige mich vor Dir und vor Adrian, vor Eurer Trauer, ich bin sicher,  Andreas ist in Euren Herzen auf ewig bewahrt.
Ich verneige mich aber vor allem vor Dir, mein jüngster Bruder, der Du schon vor mir gegangen bist. Ich verneige mich vor Deinem Lebenswerk, vor den Spuren, die Deine Liebe  auf dieser Erde hinterlassen hat  und vor den Menschen, in deren Herzen Du weiterlebst.

Stechow, den 26. 11. 2013

Freitag, 1. November 2013

Zeit und Leben

Wenn ich meinen Lebensweg betrachte, dann sehe ich mich auf einer linearen Ebene  von  Punkt A nach B wandern.   Ich bin der kleine Punkt auf der Linie. Am Anfang bewegt  sich der kleine Punkt unendlich langsam.  Das Morgen  scheint immer  unendlich weit zu sein. Kaum bin ich grösser,  fängt der Punkt an, sich viel schneller zu bewegen, er eilt auf der Linie voran.  Die Tage eilen davon und ehe ich mich versehe, bin ich alt und plötzlich verlangsamt sich das Tempo des Lebens erneut, die Tage schleichen dahin.  Zeit ist etwas sehr relatives und sie gerät nahezu zum Stillstand, wenn ich in eine schwierige Situation gerate,  eine Krankheit fesselt mich ans Bett,  ich warte auf den nächsten Morgen mit Schmerzen, ich kann nicht schlafen, ich komme an Grenzen, die ich nicht überwinden kann. In diesen Momenten kommt  mein Leben fast zum Stillstand, ich weiss nicht wie es weitergeht. Das sind Momente,  die auch eine grosse Chance bieten, die Chance  die horizontale Linie meines Lebensweges zu durchbrechen und in die vertikale Linie  der Tiefe meines Seins vorzustossen.  Auf dieser Linie öffnen sich völlig neue Dimensionen von Welten, von deren Existenz ich vielleicht etwas geahnt habe, aber in der Eile meines Lebens keine Notiz nehmen konnte.  Erst wenn mein Leben fast zum Stillstand kommt, durch äussere Hindernisse wie Krankheit oder durch  das willentliche Anhalten in der Medition, habe ich die Möglichkeit  in die Tiefe meines Seins vorzustossen.  Ein Bild das vielleicht hilft diesen Schritt zu machen:  Ich sehe mich als diesen kleinen Punkt auf der Lebenslinie. Der Punkt kommt zum Stillstand. Ich richte mich auf,  meine Füsse berühren die Erde und fühlen die Kraft die mir die Erde durch ihre Gaben ein Leben lang schenkt und mein Kopf ragt in den Himmel.  Mein Kopf öffnet sich und lässt die Kraft des gesamten Universums in mich fluten,  das Leben selbst, das mich geschaffen hat,  fliesst in mich ein. Himmel und Erde verbinden sich in mir und ich erkenne mich zugleich als  ein Geschöpf von Himmel und Erde,  das ist das, was ich bin.