Samstag, 31. Oktober 2020

Wenn ich Langeweile habe

Im Augenblick regen sich überall Proteste gegen Einschränkungen in Coronazeiten. Discos, Bars, Restaurants, Fussballstadien, alles wird geschlossen. Nicht einmal im engsten Freundes- und Familienkreis dürfen wir mehr feiern. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen, und viele können mit sich selbst nichts anfangen. Jede Minute die wir mit uns selbst verbringen müssen kommt uns unendlich lang vor, sie dauert eben eine lange Weile, und tiefer Missmut erfüllt uns. Dabei bietet sich eine einmalige Chance, die Möglichkeit etwas mehr über uns selbst zu erfahren. Alle diese Möglichkeiten draussen in der Welt, auszugehen, sich zu amüsieren, die Zeit zu vertreiben sind entfallen und plötzlich habe ich nur noch mich selbst zur Verfügung. Was wir im Aussen suchen ist im Grunde Bestätigung, Bestätigung durch die Freunde, Bestätigung unseres guten Aussehens, Bestätigung durch den Partner, Bestätigung durch die erfolgreiche Mannschaft eines Fussballclubs und vor Allem Identifikation mit Gruppen, Zugehörigkeitsgefühle und Anerkennung. Befriedigung kann dieses Suchen nach Bestätigung im Aussen nie finden. Die Suche nach Bestätigung ist im Tiefsten eine Suche nach Erfüllung, nach Glück. Die Suche nach Erfüllung ist eine Suche nach dem Leben selbst, die Suche nach meinem Leben. Mein Leben finde ich aber nicht im Aussen, ich finde es nur in mir selbst. Wenn ich im Aussen, in der Welt auf die Suche nach mir selbst gehe, treffe ich auch nur die Welt, ich glaube ich treffe auf das Leben, finde aber eine Aneinanderreihung von Vergnügungen und Ablenkungen von mir selbst und indem ich immer hektischer suche gelingt es mir tatsächlich die Zeit zu vertreiben, die kurze Spanne Zeit, die mir für mein Leben zur Verfügung steht, ich verliere mein Leben,. - Kommt da nicht mit einem Virus eine grosse Chance auf mich zu, wenn mir eine Auszeit verordnet wird, Kein Ausgang, keine Vergnügungen, keine Ablenkung von mir selbst. Ich habe plötzlich eine lange Weile Gelegenheit mich mit der anderen Seite von mir zu beschäftigen, vielleicht ein gutes Buch zu lesen, einen Gedanken in mich herein zu lassen, vielleicht auch einen Philosophen zu Wort kommen zu lassen oder mich an meine Kindheit zu erinnern, wo ich noch eine Ahnung von Gott hatte. Ich weiss, dass das eine grosse Herausforderung ist, zu sich selbst zu finden, aber es ist das wirklich spannende Leben auf das ich treffe , wenn ich von aussen nach Innen gehe und beginne die Tiefe meines Seins zu erforschen. Wir müssen wie unsere Kinder vorgehen, wenn diese die Welt erforschen, voller Neugier, voller Offenheit. Vielleicht auch den einen oder anderen Gedanken zu Papier zu bringen und zu Ende denken. Wenn ich Langeweile für mich zu nutzen weiss, merke ich erst , dass ich garnicht genug Zeit in meinem Leben habe, um die ganze Tiefe in mir je ausloten zu können. Jeder Moment wird zum kostbarsten Moment in meinem Leben. Erfüllung und Anerkennung finde ich in mir selbst, wenn ich erkenne, welches Abenteuer der Weg in mich selbst bietet. Von Langeweile keine Spur.

Donnerstag, 29. Oktober 2020

Auf den Spuren meiner Mutter

Vor kurzem las ich die Tagebücher meiner Mutter. 1903 geboren, kam sie aus dem Vielvölkerstaat Österreich. Ihr Vater ein österreichischer Gymnasialprofessor in Lemberg. In Lemberg kamen Deutsche, Polen, Ukrainer, Juden und Armenier zusammen und schufen eine der reichsten und tolerantesten Kulturen des damaligen Europas. Wenn wir heute die Bücher von Eugen Roth oder Gregor von Rezzori lesen, bekommen wir eine Vorstellung von der Toleranz und dem Reichtum der Kulturen im damaligen Österreich. Der ukrainischen Sprachfamilie angehörend, wären meine Grosseltern nie auf die Idee gekommen sich als etwas anderes als Österreicher zu empfinden. Aus diesem toleranten Land musste meine Mutter emigrieren als nach dem 1. Weltkrieg das galizische Österreich von Polen besetzt wurde und keine andere Sprache als das Polnische gesprochen werden durfte. Meine Grosseltern blieben in Galizien und wurden 1940 nach Einmarsch der Kommunisten ermordet, weil sie Teil der Intelligenz des Landes waren und jeder Bewohner mit einer höheren Bildung nicht in das Weltbild der Linken passte. Meine Mutter, eine studierte Frau ,wurde zur Immigrantin und Deutschland wurde ihre neue Heimat. Eine bessere Deutsche als sie kann ich mir nicht vorstellen. Aber es gibt keinen Zweifel, ich bin der Sohn einer Immigrantin, mein Bruder Arnim, der berühmteste deutsche Linguist unserer Zeit , ist der Sohn einer Immigrantin, mein Bruder Andreas, ein Diplomat, hat sein Land als Botschafter Deutschlands auf der ganzen Welt vertreten, auch er der Sohn einer Immigrantin. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, wir wären keine Deutschen. Ich schreibe das, weil ich mich als Deutscher für die Deutschen schäme, die ein Hetze gegen die Immigranten führen, eine Hetze, die mich an den Nationalsozialismus erinnert, mit seiner Rassenideologie. In Deutschland sind wir immer ein Vielvölkerstaat gewessen, eine Mischung von allen europäischen Völkern, Germanen, Slawen, Kelten, Romanen. Mein kluger Bruder sagte einmal, es gibt keine Rassen, sondern nur Menschen, die einer Sprachfamilie zugehören. Wenn eine politische Führerin sagt: Wir schaffen das. - dann meint sie – gebt den Immigranten eine Chance sich zu integrieren, unsere Sprache zu lernen und unsere Kultur anzunehmen. Wir waren schon immer auf Immigration angewiesen und werden es auch weiter bleiben. Ich jedenfalls bin stolz darauf der Sohn einer Immigrantin und ein deutschsprachiger Angehöriger der grossen europäischen Familie zu sein. Gemeinsam mit den Menschen, die zu uns kommen, um sich ein neues Leben aufzubauen, können wir eine reiche und vielseitige Kultur im Herzen Europas schaffen.

Freitag, 23. Oktober 2020

Ein anderer Blick auf den Virus

Wir leben in Symbiose mit drei Billionen Kleinstlebewesen, wie Viren und Bakterien. Wir Menschen sind der Wirt und unsere Bevölkerung, die Billionen Lebewesen in uns und auf uns, zeigen sich erkenntlich, indem sie uns in den zahlreichen Körperfunktionen behilflich sind. Wir leben nicht nur miteinander, sondern auch von einander. Ein Virus, der bisher einen anderen Wirt hatte, tritt an uns heran und möchte uns als Wirt benutzen. Wir haben noch nicht mit ihm Bekanntschaft gemacht und es hat kein gegenseitiger Anpassungsprozess stattgefunden. Die ersten Begegnungen sind nicht gut verlaufen, weder für uns, noch für den Virus. Wenn unser Organismus ihn nicht vertragen hat, erfolgte Krankheit, in vielen Fällen Tod. Die körpereigene Intelligenz des Virus ist auf Überleben programmiert, genauso wie die Körperintelligenz des Menschen. Vernichtet der Virus seinen Wirt, dann vernichtet er sich selbst. Beide Körperintelligenzen, die des Virus und die des Menschen reagieren daher sofort aufeinander. Der Virus beginnt zu mutieren, sich anzupassen, er möchte überleben, möchte in die Gemeinschaft der Viren aufgenommen werden, die in Symbiose mit den Menschen leben. Sehr bald bemerken wir, dass der neue Virus anders wird, weniger tödlich, am Ende dieser Entwicklung steht die Anpassung, er wird zum Bestandteil unserer Körperfamilie. Das Lebewesen Mensch reagiert auf zwei Weisen auf dieses neue Wesen. Der Körper baut von sich aus eine langsam stärker werdende Immunität auf, solange bis er mit dem Virus kompatibel ist und er dem Virus als Wirt dienen kann. Daneben entwickelt er mit seinem Verstand Mittel, die diesen Vorgang beschleunigen können. Es geht dabei nicht um einen Kampf gegen den Virus, sondern um Mittel , die eine Anpassung von beiden Seiten, auf Seiten des Virus und auf Seiten des Wirtkörpers beschleunigen. Anstelle des Kampfes gegen den Virus, tritt eine Politik der Anpassung an den Virus. Wir lernen etwas anzunehmen was nicht zu ändern ist, die Lebensintelligenz der beiden Lebewesen Mensch und Virus miteinander in Einklang zu bringen. Ich hoffe, dass diese Herangehensweise in der Medizin Schule machen wird, die Körperintelligenz in den Lebewesen respektieren zu lernen, und nicht mehr gegen etwas zu kämpfen, sondern durch kluges Zurückweichen Raum zu schaffen für die gegenseitige Annäherung und vor allem Respekt zu haben vor der ungeheuren Lebenskraft der Körperintelligenz in allen Lebensformen, der es immer gelingen wird Wege zu finden, um zu überleben. Ich habe gelernt, den Virus nicht als Feind zu betrachten, sondern als eine Lebenform, die an uns herangetreten ist und Bestandteil unseres Systems werden wird.

Dienstag, 20. Oktober 2020

Ängste und Negativität - wie ich damit umgehe

Jeder von uns kennt das Gefühl des Versagens, die Angst vor dem Leben. Den Rückblick auf das Leben – die Frage: was habe ich erreicht? Den Wunsch nach dem richtigen Partner – oder der Blick auf die eigene Beziehung, wie hat sich alles verändert - so habe ich mir das nicht vorgestellt. Den Blick auf bevorstehende Prüfungen – das schaffe ich nie. Die Angst vor dem Altern, die Angst vor dem Tod. Es sind immer Gedanken die in die Vergangenheit blicken oder in die Zukunft. In „Ein Kurs in Wundern“ las ich, dass wir nicht negativ denken würden, wenn wir nicht glauben würden, dass dies uns hilft. - Wenn wir uns nicht mit der Vergangenheit identifizieren – So viele verlorene Jahre – oder mit der Zukunft – Was soll alles Werden, wie geht es weiter mit meinem Leben – dann bleibt eigentlich nur der Blick auf die Gegenwart. Es ist das Jetzt in dem alles stattfindet, unser so wichtiges und wertvolles Leben, nur im Jetzt können wir die Blockade durch unsere Gedanken abwerfen, unser Ängste und unseren Pessimismus. Wenn wir unsere Negativität und unsere Ängste im Jetzt zulassen - gewinnen wir Abstand von ihnen, und wir sind ganz dicht am Punkt unserer Erlösung von aller Negativität: nur im Jetzt können wir das Licht unseres Bewusstseins auf das Dunkel unserer Emotionen richten und Erleuchtung erfahren - Licht verdrängt alles Dunkel - und wir können den Wert unseres eigenen Lebens erfahren und die Schönheit und den Wert von allem was uns umgibt. Jeder von uns hat diese Kraft in sich und wir können unsere Ängste und unsere Negativität nutzen, um die Wandlung in uns zu vollziehen, die es uns ermöglicht mit Mut und Freude und innerem Frieden durch das Leben zu gehen. Wenn wir glauben, dass wir einen ganz dunklen Punkt in unserem Leben erreicht haben, dann ist der Moment der Erleuchtung ganz nahe. Das Licht der Gegenwärtigkeit besiegt alle Gedanken die aus dem Dunkel kommen . Wir müssen nur jeden Gedanken an Vergangenheit und Zukunft hinter uns lassen, den Ballast unserer Gedankenmühle abwerfen und hinaus in die Schönheit und das Licht des Lebens treten.

Sonntag, 18. Oktober 2020

Der Reichtum des Lebens

Einmal Lottogewinner sein – ist der Traum vieler die in den Annahmestellen stehen und wöchentlich ihren Schein abgeben. Bei manchen geht dieser Traum in Erfüllung und dann liest man immer wieder, wie schnell das Geld verschwindet und wie das Gefühl arm zu sein um so heftiger auftritt. Geld hat da anscheinend seine eigenen Vorstellungen, wohin es gerne geht und wo es bleibt. Geld wird dorthin angezogen, wo die Menschen sind, die sich reich fühlen. Es ist eine ganz besondere Energie, die Geld anzieht. Sich reich zu fühlen hat nichts mit reich zu sein zu tun. Sich reich fühlen heisst, das unbegrenzte Potential in sich zu spüren, welches das Leben uns bietet und und die Energie und Kraft dieses Potential sinnvoll für das eigene Leben einzusetzen. In meiner Nachkriegsgeneration sind wir alle fast mit Nichts dagestanden. Da gab es nur das ungeheure Potential aus dem Nichts wieder Etwas zu gestalten. Unsere Kinder sagen oft , Ihr habt es leicht gehabt etwas aufzubauen, wenn nur Nichts da war. Ich entgegne dann, jeder steht vor der gleichen Situation. Wer erbt hat es viel schwieriger etwas Neues zu schaffen. Die bereits vorhandene Materie, der Wohlstand der Eltern verdeckt das Potential des Lebens. Sie glauben das Leben besteht darin, das nicht selbst Erworbene zu erhalten. Das wird in den seltensten Fällen gelingen. Sie werden immer Angst haben, das zu verlieren, was Ihnen übertragen wurde und diese Angst vor Verlust wird ihnen das nehmen, was ihnen so wichtig ist. Ich habe Geld immer nur als Mittel zum Zweck betrachtet. Etwas aufzubauen, etwas zu schaffen, andere Menschen auf meinem Weg mitzunehmen. Verantwortung für andere zu übernehmen, niemanden im Stich zu lassen und vor allem für mich keine materiellen Ansprüche zu stellen. So konnte ich mich mein ganzes Leben lang reich fühlen. Ich fühle mich reich, wenn meine Kinder ihren eigenen Lebensweg gehen und ihr eigenes Potential entwickeln, wenn meine Partnerinnen ihre eigenen Vorstellungen umsetzen können, wenn alle Menschen, die mich auf meinem Weg begleiten ein gutes Leben führen können. Es ist ein Wunder, wenn ich mein Leben betrachte, wie aus dem absoluten Nichts mein Leben und das Leben meiner Geschwister entstanden und vergangen sind und den Reichtum, den jeder von uns geschaffen hat, jeder in seiner Art. Das alles Erschaffene vergeht, liegt in der Natur der Dinge - wie Goethe sagt: was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen. Wir erben alle das unbegrenzte Potential des Lebens, und jeder von uns muss es immer auf das Neue erwerben, darin liegt der Reichtum des Lebens.

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Altwerden - ein Geschenk der Natur

Wenn ich analysiere was ich in meiner morgendlichen Meditation in mich hineinlasse, dann sind es immer konkrete Anlässe oder Gedanken, die ich überprüfe. Dabei komme ich immer wieder zu dem Schluss, dass ich in jedem einzelnen Gedanken auch das Ganze sehen kann. Es lohnt sich das Einzelne zu betrachten, um die Fülle des Seins zu erfassen. Es ist einer der vielen Vorteile des Alterns, mehr Zeit für sich zu gewinnen. Auch das Alleinsein ist hilfreich die Gedanken zu ordnen. Ich bin mir bewusst, dass ich in Worten nicht fassen kann, was das eigentliche Sein und die Tiefe des Lebens ausmachen, wie könnte ich Stille und Leere beschreiben, wie fände ich Worte und Sätze, die Grenzenlosigkeit des Raumes wiederzugeben, den ich in Allem empfinde, auch in mir selbst. Ich bewege mich an der Oberfläche der Dinge, versuche das zu erfassen, was die Natur uns erlaubt zu wahrzunehmen und das zu ahnen, was jenseits meines Fassungsvermögens liegt. So müssen die Physiker empfunden haben, die in die Grenzenlosigkeit des Alls und in die Geheimnisse der Energie vorgestossen sind. Immer neue Welten tun sich auf, im Mikro- und im Makrokosmos, wahrscheinlich bis in alle Unendlichkeit. Das was ich zu Papier bringe ist der Versuch, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, im Kleinen die Gesetzmässigkeiten zu erkennen, die Gedankenspirale zum Stillstand zu bringen und in die Tiefe vorzudringen, die in allem sichtbar wird. So wie die Worte entstehen die ich niederschreibe, werden diese Worte wieder vergehen. So sehen es die Buddhisten und die Physiker sagen vielleicht, Worte sind Energie, wie kann Energie vergehen? Wahrscheinlich haben beide Recht. Es ist ein grosses Geschenk, wenn das Leben einem im Alter noch einmal Zeit und Gelegenheit gibt, sich frei zu machen von den Alltagstätigkeiten und Ruhe in sich einkehren zu lassen, vor allem in die Welt der Gedanken. Die Bedeutung der Welt nimmt ab und die Tiefe dessen, was die Welt ausmacht und mich selbst als Teil der Welt, wird immer sichtbarer. Es ist ein grosser Luxus immer weniger Dinge zu haben und immer mehr Raum um sich und in sich zu schaffen. Und wenn dann in diesem Raum ein Umstand oder ein Vorkommnis, ein Wort oder ein Gedanke, meine Aufmerksamkeit anspricht, habe ich die notwendige Zeit und Ruhe, ihn in Ruhe wahrzunehmen. Für wen bringe ich meine Wahrnehmungen zu Papier? Natürlich für mich, auch für meine Kinder mit ihren Familien und einige Freunde, die mir was bedeuten.

Dienstag, 13. Oktober 2020

Wie van Gogh mich in einen Lichttunnel zog

In einem Film sah ich ein Bild von van Gogh aus der Serie seiner Sternenbilder. Die Bilder waren über einen Projektor auf eine Wand geworfen und man sass im Dunkel mitten im Sternenmeer. Ein Bild rief eine Erinnerung an ein Kindheitserlebnis wach. Ein Lichttunnel aus Sternen und Lichtpunkten, ein Kreis mit einer magischen Anziehung, am Ende des Tunnels das Licht. Es war 1946 in einem kleinen Dorf in Thüringen. Es gab nach dem Krieg absolut nichts, kein Essen, keine Medikamente, kein Zuhause. Ich bekam Diphterie. Ein Todesurteil ohne Serum. Im Endstadion der Krankheit trat ich in diesen Tunnel ein, der gleiche, den ich bei Van Gogh sah, Licht umgab mich und ich ging durch dieses Licht auf eine leuchtende Wand zu. Tiefe Ruhe und Frieden erfüllten mich. Ich war sechs Jahre alt, es ist aber wie heute. Ein Onkel, der im gleichen Dorf Arzt war setzte mich in letzter Minute auf sein Motorrad und fuhr mit mir in der Nacht in das Kreiskrankenhaus. Sie hatten, wie ein Wunder, noch eine letzte Ampulle von dem Diphterieserum. Van Gogh soll mehrere Selbstmordversuche gemacht haben. Er muss ein ähnliches Tunnelerlebnis gehabt und es in einem seiner Bilder zur Ewigkeit erhoben haben. Eins weiss ich, vor diesem Lichttunnel braucht sich keiner zu fürchten, es ist ein Gang in das Licht und in den Frieden. Wenn ich das nächste Mal in Paris bin, werde ich in den Louvre gehen und mich an meine Kindheit erinnern.

Mittwoch, 7. Oktober 2020

Feminismus und Evolution

Auf dem Tisch liegt ein Buch von Susan Sontag. Eine bekannte Feministin. Viele können das Thema Feminismus nicht mehr hören. Und doch ist Feminismus noch solange nötig, bis das männliche und das weibliche Prinzip sich wieder in der Balance befinden. In Jahrtausenden hat das männliche Prinzip die Oberhand gewonnen und mit Gewalt und Aggressivität das weibliche Prinzip benachteiligt. Beide Prinzipien sind aber gleichwertig und auch in beiden Geschlechtern gleichwertig angelegt, nur mit einer leichten Verschiebung in die eine oder andere Richtung. In der Natur beobachten wir, dass die weiblichen Tiere die grössere Bedeutung haben. Da wo der Mensch nicht eingegriffen hat leben weibliche Tiere getrennt von den männlichen Tieren und lassen die männlichen Tiere nur zur Paarung zu. Die weiblichen Tiere sind die Leittiere, ihre Lebensinstinkte sind stärker ausgeprägt und Gefahren werden mit Vorsicht und Vermeidung bewältigt. Das weibliche Prinzip ist das lebenserschaffende, das lebenserhaltende Prinzip, das männliche Prinzip ist auf Kampf, Widerstand, Macht und Herrschaft angelegt. Ich kann verstehen, dass Frauen sich heute wieder auf ihre lebenserschaffende Rolle besinnen und sich frei machen von Bevormundung und Abhängigkeit. Wenn ich Frau wäre, und nicht den geeigneten Partner fände, der bereit ist ein Leben in beiderseitiger Gleichwertigkeit zu führen, würde ich, wie in der Natur, das männliche Prinzip nur zur Paarung zulassen. Die grosse Gemeinschaft der Frauen steht zusammen, wenn es um die Erhaltung des Lebens geht. Das männliche Prinzip ist hierzu weniger geeignet. Die Erkenntnisse der Gesellschaft zur Gleichwertigkeit der Geschlechter sollten sich nicht nur auf die Gleichberechtigung der Frauen richten, sondern vor allem auf die soziale Sicherung der alleinerziehenden Frauen. In der Evolution der Menschheit haben wir den Punkt erreicht, wo wir die Gleichwertigkeit der beiden Prinzipien erkannt haben. Es wird aber noch Zeit kosten, bis die Schäden in der Psyche von Männern und Frauen beseitigt sind. Der kollektive weibliche Schmerzkörper, der durch Jahrtausende Unterdrückung, Gewalt und Abhängigkeit geprägt ist und der kollektive männliche Schmerzkörper, der durch die Ausübung von Gewalt, Macht und Herrschaft, Kriege und Tod gelitten hat, brauchen Zeit um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Erst wenn die patriarchalischen Gesellschaften mit Ihren strafenden männlichen Gottheiten untergehen und die Gleichwertigkeit der beiden Prinzipien in uns zur Selbstverständlichkeit geworden ist, wird Feminismus nicht mehr nötig sein.

Sonntag, 4. Oktober 2020

Wer von uns ist Alchemist?

Wir kennen die Figur des Alchemisten, der versuchte aus Blei Gold herzustellen. Es ist die Geschichte der Verwandlung, aus Unedlem Edles zu formen. Ich kenne Alchemisten, denen dies gelungen ist. Denn es geht in Wahrheit um die Verwandlung des Menschen. Nicht wie bei Kafka, der die Verwandlung in ein hässliches Insekt beschreibt, das am Ende die Verurteilung erwartet. Eher ist Alchemie die Metamorphose des Menschen in seiner nicht entwickelten Form in seine höhere entwickelte Bestimmung. Wenn wir ein allegorisches Bild gebrauchen, dann lieber das Leben der Raupe, bis zur Verpuppung und die Sprengung der Hülle, um als schöner Schmetterling in die Lüfte zu steigen. Um mich herum sind Alchemisten, die aus Farbe und Leinwand Kunstwerke schaffen, Komponisten die aus Tönen ganze Stücke zusammenfügen, Architekten, die aus Steinen und Sand unvergängliche Bauten herstellen, Köche, die aus einfachen Zutaten wunderbare Gerichte zaubern. Wir sind umgeben von Alchemisten, die Unedles in Edles verwandeln. Wie steht es um uns selbst, auch wir könnten Alchemisten sein. Wir könnten uns von einer unedlen, der Materie verhafteten Form, in eine höhere Existenz verwandeln, aufsteigen aus der Erdgebundenheit, aus der Gedankenlastigkeit, aus dem schmalen Wissen, das uns Schulen und Universitäten vermitteln, in unsere höhere geistige Form, die uns in der Evolution von der Natur auch zugedacht ist. Unsere rein materielle Existenz mit der in uns angelegten geistigen Form verbinden, das ist Verwandlung. Ganz mit unseren beiden Füssen auf dieser Erde stehen und gleichzeitig hinaufzufliegen in die unendliche Weite des Raums, aus dem wir und diese Welt kommen, den wir nur zu leicht in unserer Erdgebundenheit übersehen. Es ist die Verwandlung der Raupe in den Schmetterling, die Auflösung der Seinsvergessenheit durch Rückkehr in das Sein, die Erlösung aus der dumpfen Verbindung mit dem Blei, Symbol für Materie, die wir als Alchimisten unseres Lebens anstreben. - Ich freue mich täglich, wenn ich die Alchemisten sehe, die mich umgeben. Die Gestalterin, die dumpfe Hässlichkeit in harmonische Schönheit umformt, die Musikerin die uns die Töne für unsere Filme zusammenfügt, die Eltern, die kleine Wesen zu Menschen formen und die Geheimnisse der Verwandlung an die nächste Generation weitergeben, überall sehe ich die Goldmacher am Werk, überall sehe ich Schmetterlinge aufsteigen, und ich erkenne, dass auch ich zu dem Prozess der Verwandlung beigetragen habe, ein wenig Alchemist war und bin.