Sonntag, 4. Oktober 2020

Wer von uns ist Alchemist?

Wir kennen die Figur des Alchemisten, der versuchte aus Blei Gold herzustellen. Es ist die Geschichte der Verwandlung, aus Unedlem Edles zu formen. Ich kenne Alchemisten, denen dies gelungen ist. Denn es geht in Wahrheit um die Verwandlung des Menschen. Nicht wie bei Kafka, der die Verwandlung in ein hässliches Insekt beschreibt, das am Ende die Verurteilung erwartet. Eher ist Alchemie die Metamorphose des Menschen in seiner nicht entwickelten Form in seine höhere entwickelte Bestimmung. Wenn wir ein allegorisches Bild gebrauchen, dann lieber das Leben der Raupe, bis zur Verpuppung und die Sprengung der Hülle, um als schöner Schmetterling in die Lüfte zu steigen. Um mich herum sind Alchemisten, die aus Farbe und Leinwand Kunstwerke schaffen, Komponisten die aus Tönen ganze Stücke zusammenfügen, Architekten, die aus Steinen und Sand unvergängliche Bauten herstellen, Köche, die aus einfachen Zutaten wunderbare Gerichte zaubern. Wir sind umgeben von Alchemisten, die Unedles in Edles verwandeln. Wie steht es um uns selbst, auch wir könnten Alchemisten sein. Wir könnten uns von einer unedlen, der Materie verhafteten Form, in eine höhere Existenz verwandeln, aufsteigen aus der Erdgebundenheit, aus der Gedankenlastigkeit, aus dem schmalen Wissen, das uns Schulen und Universitäten vermitteln, in unsere höhere geistige Form, die uns in der Evolution von der Natur auch zugedacht ist. Unsere rein materielle Existenz mit der in uns angelegten geistigen Form verbinden, das ist Verwandlung. Ganz mit unseren beiden Füssen auf dieser Erde stehen und gleichzeitig hinaufzufliegen in die unendliche Weite des Raums, aus dem wir und diese Welt kommen, den wir nur zu leicht in unserer Erdgebundenheit übersehen. Es ist die Verwandlung der Raupe in den Schmetterling, die Auflösung der Seinsvergessenheit durch Rückkehr in das Sein, die Erlösung aus der dumpfen Verbindung mit dem Blei, Symbol für Materie, die wir als Alchimisten unseres Lebens anstreben. - Ich freue mich täglich, wenn ich die Alchemisten sehe, die mich umgeben. Die Gestalterin, die dumpfe Hässlichkeit in harmonische Schönheit umformt, die Musikerin die uns die Töne für unsere Filme zusammenfügt, die Eltern, die kleine Wesen zu Menschen formen und die Geheimnisse der Verwandlung an die nächste Generation weitergeben, überall sehe ich die Goldmacher am Werk, überall sehe ich Schmetterlinge aufsteigen, und ich erkenne, dass auch ich zu dem Prozess der Verwandlung beigetragen habe, ein wenig Alchemist war und bin.

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