Freitag, 29. Mai 2015

Weisheit des Alters


Wie alles im Leben, hat das Alter nicht nur Nachteile, sondern auch seine schönen Seiten. In der Jugend  stürmen wir ungestüm  in das Leben hinaus. Wir befinden uns in unserer expansiven Phase, das Leben als großes Abenteuer,  die Welt  entwickelt sich vor unseren Augen, eine Vielzahl von Wegen und Möglichkeiten bieten sich an.  Je nach Temperament und Veranlagung  suchen wir uns unter der Vielzahl von Möglichkeiten unseren Weg, der eine zurückhaltend und vorsichtig, der andere mutig und  offen  für  die verschiedensten Herausforderungen. Ich selber habe mich immer in den zweiten Typ eingeordnet,  es hat mich   gereizt in die Welt hinauszugehen, mich den Herausforderungen anderer Kulturen zu stellen, soweit das eben in der kurzen Spanne eines menschlichen Lebens möglich war.  Meine Altersklasse waren Kriegskinder,  wir haben noch die kargen Zeiten des Krieges, und der Nachkriegszeit erlebt und die meisten haben wie ich ohne irgendeine Rückversicherung angefangen. Ich betrachte das nicht als eine schwierige Ausgangslage, eher als eine Herausforderung an unser Leben,  es in einem schwierigem Umfeld trotzdem zu schaffen. Als risikogeneigter Typ  habe ich immer den schwierigen Weg gewählt,  nicht den, den meine Eltern sich wünschten, die natürlich immer ihre Kinder in  abgesicherter Position, möglichst als Beamter sehen wollten. Meine beiden Brüder sind ähnliche Wege gegangen, jeder in seiner Art, der eine als Diplomat, immer in fernen Ländern zuhause und dem Weg unseres Vaters folgend, der andere  als  Wissenschaftler, ganz den Geheimnissen der Sprache folgend und an der Entdeckung der tiefen Zusammenhänge unseres Lebens forschend, die sich in der Sprache äussern.   Jeder von uns hat seinen Weg konsequent verfolgt,  und ich denke, dass im Rückblick,  jeder von uns, das was er geleistet hat selbst als gering einstuft, aber in den Augen der Welt ein respektables Ergebnis aufweisen kann.
Und nun im Alter, ist das nun  alles vorbei oder was hat sich geändert? Ab der Mitte des Lebens realisiert der Mensch, dass die expansive Phase seines Lebens vorüber  ist. Das was sich vorher nach Aussen gewendet hat, unsere  Lebensenergie, wendet sich nach innen.  Wenn ich früher in anderen Ländern meine Herausforderungen suchte, andere Sprachen lernte, schwierige Projekte  zum Erfolg zu bringen suchte,  so  wendete sich mein Blick nach innen, in die Erforschung von mir selbst,  ich folge meinen Gedanken an die Grenzen des menschlichen Denkens,  immer auf der Suche nach dem eigenen Selbst, immer auf der Suche nach dem  „Wer bin ich“.   Das was ich aussen geschaffen habe behält zwar seine Bedeutung, aber  vor mir tut sich im Inneren ein neuer ungeheure Raum auf ,  das ganze Universum dessen,  für das es keine  Bezeichnung gibt und  in diesen unfassbaren Räumen,  die Schöpfung,  das Leben selbst, das sich in allem äussert, das Gegenständliche im Nichtgegenständlichen.  Jede Nacht, wenn die Stunde meiner Meditation naht, entlasse ich meinen Geist in diese unfassbaren Räume, in die Stille , es ist eine Reise in das Unbekannte,   und jedes Mal  habe ich auf dieser Reise andere Erlebnisse, die mich voller Ehrfurcht das Leben betrachten lassen, die Schöpfung und mich selbst als Teil dieser Schöpfung.  Welch wunderbare Erfahrung, und ich bin froh, dass ich sie im Alter machen durfte.  Plötzlich verstehe ich die alten Lehrer der Menschheit, verstehe, was sie uns sagen wollten, schaue voller Verwunderung auf das, was die Menschen daraus gemacht haben.  Ich erfasse immer mehr die Evolution des menschlichen Geistes, das langsame Erwachen unseres Bewusstseins und so wie ich mich verändere, verändert sich auch um mich ständig die Welt.  Ich blicke aus verschieden Winkeln auf mich selbst,  da ist das,  was sich nach aussen manifestiert mein Ich ,  das äussere Ich, und das ist  inzwischen 75 Jahre alt geworden und da gibt es das innere Ich, und  das empfinde ich als ewig gleich geblieben, jung wie am ersten Tag,  das war schon da als ich in die Schule ging und es ist heute unverändert da, bis zur letzten Stunde meines Lebens, mein ewiges   Ich.
Ich stehe vor einem See, ich sehe, wie sich die Oberfläche kräuselt,  es entstehen Wellen, der See wird wieder glatt, die Abendsonne spiegelt sich in der Oberfläche,  immer neue Stimmungen und Bilder. Und  doch ist da in mir das Bewusstsein,  die Oberfläche ist nicht der See. Unabhängig von der Oberfläche, die mich beeindruckt, ist da die Tiefe des Wassers, die sich nicht beeindrucken lässt, von dem, was sich auf der Oberfläche tut,  ohne diese Tiefe würde es gar keine  Oberfläche geben.
Und ich blicke auf meine Umwelt, auf unsere Zivilisation, so voll von  Gegenständen, Wissen, Gedanken, Geschehnissen,  alles bewegt sich auf der Oberfläche, und ist sich nicht bewusst, dass alles nur Oberfläche ist,  Oberfläche von einem Raum und einer Tiefe von unvorstellbarer Grösse und Schönheit.  Der Raum hinter den Dingen dieser Welt, die Stille, aus der die Musik, unsere Sprache fließt,  die Tiefe, die das Universum trägt,  der Raum in dem sich mein Mikrokosmos bewegt. 

Und in tiefer Bewunderung für die Geheimnisse des Lebens eile ich durch die Zeit, und mit Spannung erwarte ich das, was auf mich zukommt.