Mittwoch, 29. Oktober 2014

Alleinsein

Ein Mensch ist gestorben. Da wo eben noch an unserer Seite unser Gefährte war, ist eine Lücke,  da wo ein Lebensgefährte, ein Vater, ein Freund war ist nichts, nur noch eine Erinnerung, eine Leere.  Aber ist es wirklich so, wie es uns unsere Augen, unsere Sinne mitteilen,  ist es wirklich so, dass da nur Leere ist, nur noch eine Erinnerung an etwas, was gewesen ist,  ein leerer Raum, in dem sich nichts befindet?   Bleibt uns nach der Trauer um den Verstorbenen nur ein Grabstein, auf dem die  Daten von Geburt und Tod stehen und ein  kleiner Bindestrich zwischen den Zahlen, die unser Leben bedeuten? Ist der geliebte Mensch  nur noch  eine Erinnerung,  sind wir allein, ohne  den Menschen den wir so gut kannten?   Könnten uns  nicht unsere Sinne   täuschen, unsere Augen, die nur das Gegenständliche sehen, nicht aber das was das Gegenständliche geschaffen hat, unsere Ohren, die nur die Töne hören, nicht aber die Stille wahrnehmen, aus der die Töne klingen,  unser Verstand, der nur das denken kann, was gegenständlich ist, nicht aber das was ihn geschaffen hat.  Ist es wirklich so, wie uns die Stimme in unserem Kopf einzureden versucht, dass nur das ist, was unsere Sinne  erfassen können, und das jenseits unseres Denkens nichts denkbar ist?
Ich  schaue  auf den nächtlichen  Himmel.  Eine völlig dunkle Nacht und in diesem Oktober ist das Meer der Sterne und die schwache Sichel des Mondes ganz deutlich sichtbar.  Eine ungeheure Leere und eine nicht benennbare Anzahl von Sternen. Die Dunkelheit und Leere, die ich erblicke nenne ich Raum, aber das ist nur ein Wort für etwas was Leere, Nichts ist. Ich  sehe Sternbilder, den Sternen haben wir einen Namen gegeben. Wir benennen  das was wir sehen, aber unsere Worte und Namen sind nur Schall und Rauch, sie sind allenfalls Hinweise, Fingerzeige auf das was ist oder wie die Budhisten sagen, der Finger, der auf den Mond weist ist nicht der Mond. Vor lauter Namen und Kennzeichnungen nehmen wir nicht das wahr, was hinter den Dingen ist,  wir erkennen nicht, dass es die Leere ist aus der die Fülle der  Sterne, der Formen, des Seins entstehen, dass es der Raum, das nicht Beschreibbare ist,  dass den Sternen ihre Bahn gibt und auch die Regeln unseres eigenen Lebens aufstellt.  Wir können wahrnehmen, dass alles lebt, dass alles um uns voller Leben ist und dass dieses Leben  auch Gesetzmässigkeiten  unterliegt,  die sich unserem Verstand entziehen. Alles dies können wir wahrnehmen und doch sagt uns die Stimme in unserem Kopf,   die Wahrnehmung gibt es nicht, es gibt nur das was ich  Dir sage, ich die Stimme in Deinem Kopf.  Und wir glauben das und gehen durch unser Leben und wissen das uns etwas fehlt.   Wir suchen etwas, das wir den Sinn des Lebens nennen, was aber in Wirklichkeit nur der Zugang zu der Dimension ist, die sich unserem Denken entzieht.  Auf der Suche nach dem Zugang  zur Wahrheit unseres Lebens komme ich auf den Ausgangspunkt  zurück, auf den Tod eines geliebten Menschen.  Der Tod ist solch ein Zugang,  dort wo vorher ein geliebter Mensch gewesen ist,  ist scheinbar nichts.  Aber in diesem Nichts scheint etwas auf, was  wir  wahrnehmen können, wenn wir einen Sinn für das Transzendente entwickelt haben, es scheint das auf, was wir die Seele des Menschen nennen ,  das was seiner Person Leben gegeben hat, das was   nicht dem Prozess von Werden und Vergehen unterliegt.  Es scheint das Leben auf in seiner reinsten Form.  Im Moment des Todes können wir das Leben am deutlichsten fühlen, das die sterbende Form verlässt,  und eingeht in die Fülle des Seins. 
In unserem Leben  haben wir Rang und Namen gehabt,  haben wichtige Ämter bekleidet, Gegenstände besessen,  und schon im Alter fangen wir an   alles hinter uns zu lassen, Rang und Namen fallen ab, das Vermögen schwindet,  Motten und Rost zerfressen, was wir im Leben gebaut haben. Aber gerade  bei alten Menschen ist wunderbar zu beobachten, wie langsam in der schwindenden Lebensform das durchscheint, was den Menschen wirklich ausmacht, das Leben selbst,  und dieses Leben stirbt nicht,  wenn die Form endgültig verfällt, es ist dieses Leben das bleibt.  
Wir die Beobachter sehen, wie unsere Gefährten gehen.  Wer ist das, der Beobachtet?  Ist das unserer Verstand?  Ist  das was wir sehen nur ein Gedanke, eine Erinnerung in unserem  Gedächtnis, das mit unserem eigenen Tod erlischt?   Könnte es nicht sein, dass gerade der Tod uns einen Zugang verschafft zu einer Dimension des Lebens, die wir noch nicht wahrgenommen haben?  
Wenn wir durch die Wahrnehmung des Todes gehen,  öffnet sich   eine Pforte  in uns. Wenn wir durch diese Pforte gehen, dann können wir  die Transzendenz unseres Seins wahrnehmen, die andere Seite unserer physischen Existenz. 
Der Tote hat uns allein gelassen.  In diesem Alleinsein liegt   die Möglichkeit unser Bewusstsein zu erweitern.  Schon das Wort Alleinsein  gibt den Hinweis  auf das was  uns der Tod geben kann. In  diesem Wort liegt   das  All Eins sein,  eins sein mit dem Sein, eins sein mit dem Leben.  Das Leben in uns nimmt das Leben im anderen wahr, auch im Leben des Verstorbenen,  das Leben in allem was uns umgibt.   Wenn ich   eins werde mit dem was mich scheinbar verlassen hat, dann hat es keinen Verlust gegeben, ich habe den Zugang zu meinem wirklichen Sein gefunden,  dann bin ich eins mit dem Leben und eins mit  dem an den wir heute denken.   

Wenn wir   auf  den Friedhof gehen, dann können wir uns traurigen Gedanken hingeben, wir können aber auch  auf die Vergänglichkeit  von uns selbst schauen, ohne Wertung,  und  einen Zugang erhalten zu der Ebene, die jenseits der Ebene des Denkens liegt. Es ist die transzendente Seite unsere Seins, die  wir  betreten   Wenn wir,  die Lebenden,  die  Frage stellen,  wer bin ich?   Dann  kann die Antwort nur Schweigen sein, nur Stille, nur Raum.  Und dieser Raum ist die ganze Fülle des Seins. Wer bin ich?  Die Antwort ist nicht:  Ich bin mein Name, meine soziale Stellung, mein Körper,  diese sind nur für kurze Zeit  die Fassung oder der Rahmen für den Raum,  durch den  ich hindurch auf das blicken kann, was  wirklich ist.  Wenn wir  an diesem Ort  der Verstorbenen, nicht mehr den Verstorbenen, sondern das sehen können, was der Verstorbene wirklich war und ist, dann gewinnen wir die einzige Einsicht, die wirklich ist, jenseits unserer körperlichen Form, und wir sind im Einklang mit den Lebendigen und den Toten.  Und diesen Einklang und Frieden, der höher ist als unsere Vernunft  wünsche ich Euch allen auf Eurem Weg. 


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