Eine typische Erscheinung des Alterns ist das Nachlassen des
Erinnerungsvermögens. An Gesichter und Namen konnte ich mich ein Leben lang
schlecht erinnern. Ich habe aber viel für die Verbesserung meiner Erinnerung
tun können, indem ich mich jeweils auf
das konzentriert habe, was ich gerade tat. So passiert es mir selten, dass ich
auf der Suche nach Schlüsseln, Brille oder anderen Gegenständen bin, fast immer
bin ich in der Lage zu rekonstruieren, was ich vor kurzem getan habe. Ein guter Helfer ist immer mein Verstand
gewesen, auf den ich mich ein Leben lang verlassen konnte. Und doch hat mein
Verstand mich auch oft getäuscht, zu oft hat er mir vorgespielt, er sei es, der
mein Leben bestimme, ich könnte durch ihn die Welt erklären, mich selbst, mein
Leben und mein Schicksal. - Der Verlust des Verstandes durch Unfall oder
Krankheit scheint uns das schlimmste
Unglück zu sein. Und doch macht gerade der Verlust des Verstandes deutlich,
dass unser Leben nicht den Verstand voraussetzt, wir leben noch, auch wenn wir
unseren Verstand verloren haben. - Der Verstand ist ein grosser Helfer für ein
sinnerfülltes Leben, aber er verstellt uns auch gleichzeitig eine vollständige
Sicht auf unser Leben, - wie ein Schleier legt er sich über unser Wahrnehmung und
lässt uns nur Teile des Ganzen sehen, nur kleine Ausschnitte der Wirklichkeit. -
Als Kind hatte mich ein Buch beeindruckt,
Dr. Dolittles wunderbare Reise in einen Wassertropfen, eine Reise in
eine unbekannte Welt des Lebens in einer Miniwelt eines Tropfens, die für unser
Auge unsichtbar ist. Mir wurde zum ersten Mal klar, dass wir nur kleine
Teile der Welt sehen, und das die Perspektiven, die uns unsere
Sinneswahrnehmung bietet nur Teile eines Ganzen sein können. Eine frühe
Erkenntnis. – Und doch vergesse ich immer wieder, dass die Welt, die ich
wahrnehme, eine Sinnestäuschung ist. Das
Sinnesorgan Verstand ist so beschaffen,
dass es mich immer wieder vergessen lässt, dass es eine Illusion ist, die mir
entgegenschaut und es einer Erinnerung bedarf, die weit mächtiger als der Denker
in meinem Kopf ist, die mich daran erinnert, dass ich weit mehr bin, als mir
mein Denker erlaubt zu sein. - So bewege ich mich durch den Tag, zwischen Vergessen und Erinnerung, mein Verstand, der mir dauernd zuruft, das was er mir zeige, sei die einzige
Wahrheit, und die Erinnerung in mir,
meinen Verstand nicht überzubewerten, er zeige mir nur kleine Teile
meines Seins. Eine Wanderung durch das Leben, zwischen Vergessen wer ich bin, und Erinnerung, wer ich auch bin, zwischen dem
Traum der Sinne und der Erinnerung an die grössere Wirklichkeit. Und wieder ist
es heute, und wieder muss ich mich erinnern,
dass mein Geburtstag noch immer heute ist, denn Zeit ist nur in unserem Kopf
vorhanden. Wenn ich die Zeit aus meinem Denken verbanne, dann bin ich immer
noch am 1. Tag meines Lebens, ich bin immer noch der, der ich immer war und der
ich immer bleiben werde, und ich werde mir Mühe geben, jenseits von Zeit zu
bleiben, auf der Seite des Lebens, das keinen Tod kennt.
Sonntag, 12. Juni 2022
Vergessen und Erinnern
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