Sonntag, 12. Juni 2022

Vergessen und Erinnern

Eine typische Erscheinung des Alterns ist das Nachlassen des Erinnerungsvermögens. An Gesichter und Namen konnte ich mich ein Leben lang schlecht erinnern. Ich habe aber viel für die Verbesserung meiner Erinnerung tun können,  indem ich mich jeweils auf das konzentriert habe, was ich gerade tat. So passiert es mir selten, dass ich auf der Suche nach Schlüsseln, Brille oder anderen Gegenständen bin, fast immer bin ich in der Lage zu rekonstruieren, was ich vor kurzem getan habe.  Ein guter Helfer ist immer mein Verstand gewesen, auf den ich mich ein Leben lang verlassen konnte. Und doch hat mein Verstand mich auch oft getäuscht, zu oft hat er mir vorgespielt, er sei es, der mein Leben bestimme, ich könnte durch ihn die Welt erklären, mich selbst, mein Leben und mein Schicksal. - Der Verlust des Verstandes durch Unfall oder Krankheit scheint uns  das schlimmste Unglück zu sein. Und doch macht gerade der Verlust des Verstandes deutlich, dass unser Leben nicht den Verstand voraussetzt, wir leben noch, auch wenn wir unseren Verstand verloren haben.   -  Der Verstand ist ein grosser Helfer für ein sinnerfülltes Leben, aber er verstellt uns auch gleichzeitig  eine  vollständige Sicht auf unser Leben, - wie ein Schleier legt er sich über unser Wahrnehmung und lässt uns nur Teile des Ganzen sehen, nur kleine Ausschnitte der Wirklichkeit. - Als Kind hatte mich ein Buch beeindruckt,  Dr. Dolittles wunderbare Reise in einen Wassertropfen, eine Reise in eine unbekannte Welt des Lebens in einer Miniwelt eines Tropfens, die für unser Auge unsichtbar ist.  Mir  wurde zum ersten Mal klar, dass wir nur kleine Teile der Welt sehen, und das die Perspektiven, die uns unsere Sinneswahrnehmung bietet nur Teile eines Ganzen sein können. Eine frühe Erkenntnis. – Und doch vergesse ich immer wieder, dass die Welt, die ich wahrnehme, eine Sinnestäuschung ist.  Das Sinnesorgan Verstand ist  so beschaffen, dass es mich immer wieder vergessen lässt, dass es eine Illusion ist, die mir entgegenschaut und es einer Erinnerung bedarf, die weit mächtiger als der Denker in meinem Kopf ist, die mich daran erinnert, dass ich weit mehr bin, als mir mein Denker erlaubt zu sein. -   So bewege ich mich durch den Tag,  zwischen Vergessen und Erinnerung,   mein Verstand, der mir dauernd zuruft,  das was er mir zeige, sei die einzige Wahrheit,  und die Erinnerung  in mir,  meinen Verstand nicht überzubewerten, er zeige mir nur kleine Teile meines Seins.  Eine Wanderung  durch das Leben,  zwischen Vergessen wer ich bin,  und Erinnerung, wer ich auch bin, zwischen dem Traum  der Sinne und  der  Erinnerung  an die grössere Wirklichkeit. Und wieder ist es heute,  und wieder muss ich mich erinnern, dass mein Geburtstag noch immer heute ist, denn Zeit ist nur in unserem Kopf vorhanden. Wenn ich die Zeit aus meinem Denken verbanne, dann bin ich immer noch am 1. Tag meines Lebens, ich bin immer noch der, der ich immer war und der ich immer bleiben werde, und ich werde mir Mühe geben, jenseits von Zeit zu bleiben, auf der Seite des Lebens, das keinen Tod kennt.

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