Sonntag, 9. April 2023

Osterspaziergang

I.Teil

Eine der schönsten Dichtungen der deutschen Literatur zum Osterfest ist aus dem Faust der Osterspaziergang. Faust blickt aus der Distanz, von einer Anhöhe, auf das  bunte Treiben der Menschen, er beobachtet, er nimmt nicht teil.  Wenn Faust zurück auf die Stadt blickt, dann strömen aus dem dunklen Tor der Stadt die Menschen ans Licht, in wildem Gedränge, sie sprengen die Mauern der Welt des Mittelalters,  die Regeln für Handwerk und Gewerbe.  Sie lassen die engen Gassen und Häuser hinter sich,  nur die Kirche bleibt zurück, in ehrwürdiger Dunkelheit, sie kann sich aus ihren Fesseln nicht befreien.  Die Menschen entfliehen der Enge der mittelalterlichen Welt, die Zeit der Aufklärung hat begonnen.  Sie wollen die Auferstehung des Herrn feiern, sie erreichen aber nur das nächste Dorf und Faust beobachtet das bunte Getümmel,  und wie die Menschen  ihre neue Freiheit feiern,  für sie ist  das bereits der Himmel. – Zufrieden jauchzet Gross und Klein, hier bin ich Mensch, hier darf ich sein. -  Für Faust ist das nicht das Ostererlebnis. Er sieht das alles aus der Distanz und weiss, dass ihm noch ein weiter Weg bevorsteht. Die erreichte Höhe reicht ihm nicht, er muss noch den Olymp ersteigen, das Reich der Götter.  Noch befindet er sich in den Banden der Welt, im Reich von Mephisto. Die Menschheit bleibt im Dorf und wähnt sich im Himmel. Faust aber will das Ostererlebnis, die Verwandlung, er sucht den Himmel, die Erlösung von der Welt.

Der Osterspaziergang  schildert die Metamorphose des Menschen. Der alte Mensch wandelt sich und wird zum befreiten Menschen, zum Ebenbild Gottes. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Erst wenn der Osterspaziergang zum Ostererlebnis wird hat der Mensch das Ziel erreicht. Für Faust tritt die Verwandlung ein, als er die Zeit anhält, und  den jetzigen Moment zum Verweilen auffordert: Verweile doch, Du bist so schön.-  In diesem Moment hat er sein Leben an die Welt verwirkt und gleichzeitig sich in die Erlösung gerettet. Mephisto und die Welt haben ihre Macht über ihn verloren.  Der Weg von Faust endet im Ostererlebnis, in der Verwandlung. 

II.Teil

Und heute, im 21. Jahrhundert?  Noch immer strömen die Menschen Ostern aus den Städten, auf die verstopften Autobahnen nach Süden, in den überfüllten Zügen, zu ihren Ferienziele und fliegen, eingezwängt in die engen Sitze der Flugzeuge, nach fernen Orten, die sie ihre Traumziele nennen. Noch immer feiern sie die Auferstehung, wenn sie aus den Städten stürmen.  Fragen wir aber  die Menschen, was Auferstehung sei, so wird wohl kaum einer diese Frage für sich beantworten können. Die meisten von ihnen werden  Ostern für eine fromme Legende halten, aus grauer Vorzeit, bis in die Gegenwart erhalten.  Tod und Auferstehung – so aktuell wie zu allen Zeiten – wird in die Hospitäler und Palliativstationen verwiesen.  Niemand hat mehr einen Toten gesehen, der Tod des Menschen wird totgeschwiegen, obwohl er jeden betrifft.  In Schulen und Kirchen gibt es kein Lehrfach,  das sich mit dem Tod und dem Leben beschäftigt. Die alten Menschen erinnern nur peinlich an den Tod und werden von  der Gesellschaft in Altersheime abgeschoben.  Dabei ist der Tod, wie die Geburt,  das wichtigste Ereignis im Leben jedes Einzelnen.  Und so gilt noch immer der Mythos von Tod und Auferstehung, von der Ewigkeit des Lebens, das der Tod uns nicht nehmen kann.  

Meinen Osterspaziergang habe ich in der Woche vor Ostern zu den Gräbern meiner Familie gemacht.  Mein Ostererlebnis war die Erinnerung daran, dass das Leben der Verstorbenen nicht mit ihrem Tod endete.  Ostern erinnert mich an den ewigen Kreislauf des Lebens, an Anfang und Ende, an Tod und Auferstehung.  Wenn ich Ostern richtig verstehen will, dann halte ich, wie Faust, die Zeit an. Ich habe  begriffen, dass es keine Zeit gibt. Als  Teil des allumfassenden Lebens bin ich aus der Ewigkeit in die Endlichkeit der Welt geboren, und kehre aus der Welt in die Ewigkeit zurück.  Ostern ist für mich der Moment, in dem ich zum Leben sage: Verweile doch Du bist so schön. Tod und Auferstehung werden in diesem Moment eins, es gibt nicht das Eine ohne das Andere. Ich bin in das Vaterhaus zurückgekehrt, das ich nie verlassen habe,  in die Ewigkeit des  Lebens.


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