I.Teil
Eine der schönsten Dichtungen der deutschen Literatur zum
Osterfest ist aus dem Faust der Osterspaziergang. Faust blickt aus der
Distanz, von einer Anhöhe, auf das bunte
Treiben der Menschen, er beobachtet, er nimmt nicht teil. Wenn Faust zurück auf die Stadt blickt, dann
strömen aus dem dunklen Tor der Stadt die Menschen ans Licht, in wildem
Gedränge, sie sprengen die Mauern der Welt des Mittelalters, die Regeln für Handwerk und Gewerbe. Sie lassen die engen Gassen und Häuser hinter
sich, nur die Kirche bleibt zurück, in
ehrwürdiger Dunkelheit, sie kann sich aus ihren Fesseln nicht befreien. Die Menschen entfliehen der Enge der
mittelalterlichen Welt, die Zeit der Aufklärung hat begonnen. Sie wollen die Auferstehung des Herrn feiern,
sie erreichen aber nur das nächste Dorf und Faust beobachtet das bunte Getümmel, und wie die Menschen ihre neue Freiheit feiern, für sie ist
das bereits der Himmel. – Zufrieden jauchzet Gross und Klein, hier
bin ich Mensch, hier darf ich sein. - Für Faust ist das nicht das Ostererlebnis. Er
sieht das alles aus der Distanz und weiss, dass ihm noch ein weiter Weg
bevorsteht. Die erreichte Höhe reicht ihm nicht, er muss noch den Olymp ersteigen,
das Reich der Götter. Noch befindet er
sich in den Banden der Welt, im Reich von Mephisto. Die Menschheit bleibt im
Dorf und wähnt sich im Himmel. Faust aber will das Ostererlebnis, die
Verwandlung, er sucht den Himmel, die Erlösung von der Welt.
Der Osterspaziergang schildert die Metamorphose des Menschen. Der
alte Mensch wandelt sich und wird zum befreiten Menschen, zum Ebenbild Gottes. Bis
dahin ist es noch ein weiter Weg. Erst wenn der Osterspaziergang zum
Ostererlebnis wird hat der Mensch das Ziel erreicht. Für Faust tritt die
Verwandlung ein, als er die Zeit anhält, und den jetzigen Moment zum Verweilen auffordert: Verweile
doch, Du bist so schön.- In diesem
Moment hat er sein Leben an die Welt verwirkt und gleichzeitig sich in die
Erlösung gerettet. Mephisto und die Welt haben ihre Macht über ihn verloren. Der Weg von Faust endet im Ostererlebnis, in
der Verwandlung.
II.Teil
Und heute, im 21. Jahrhundert? Noch immer strömen die Menschen Ostern aus den
Städten, auf die verstopften Autobahnen nach Süden, in den überfüllten Zügen, zu
ihren Ferienziele und fliegen, eingezwängt in die engen Sitze der Flugzeuge,
nach fernen Orten, die sie ihre Traumziele nennen. Noch immer feiern sie die
Auferstehung, wenn sie aus den Städten stürmen. Fragen wir aber die Menschen, was Auferstehung sei, so wird
wohl kaum einer diese Frage für sich beantworten können. Die meisten von ihnen
werden Ostern für eine fromme Legende
halten, aus grauer Vorzeit, bis in die Gegenwart erhalten. Tod und Auferstehung – so aktuell wie zu allen
Zeiten – wird in die Hospitäler und Palliativstationen verwiesen. Niemand hat mehr einen Toten gesehen, der Tod
des Menschen wird totgeschwiegen, obwohl er jeden betrifft. In Schulen und Kirchen gibt es kein Lehrfach, das sich mit dem Tod und dem Leben
beschäftigt. Die alten Menschen erinnern nur peinlich an den Tod und werden von
der Gesellschaft in Altersheime abgeschoben.
Dabei ist der Tod, wie die Geburt, das wichtigste Ereignis im Leben jedes
Einzelnen. Und so gilt noch immer der
Mythos von Tod und Auferstehung, von der Ewigkeit des Lebens, das der Tod uns
nicht nehmen kann.
Meinen Osterspaziergang habe ich in der Woche vor Ostern zu
den Gräbern meiner Familie gemacht. Mein
Ostererlebnis war die Erinnerung daran, dass das Leben der Verstorbenen nicht
mit ihrem Tod endete. Ostern erinnert mich
an den ewigen Kreislauf des Lebens, an Anfang und Ende, an Tod und
Auferstehung. Wenn ich Ostern richtig
verstehen will, dann halte ich, wie Faust, die Zeit an. Ich habe begriffen, dass es keine Zeit gibt. Als Teil des allumfassenden Lebens bin ich aus der
Ewigkeit in die Endlichkeit der Welt geboren, und kehre aus der Welt in die Ewigkeit
zurück. Ostern ist für mich der Moment,
in dem ich zum Leben sage: Verweile doch Du bist so schön. Tod und
Auferstehung werden in diesem Moment eins, es gibt nicht das Eine ohne das
Andere. Ich bin in das Vaterhaus zurückgekehrt, das ich nie verlassen habe, in die Ewigkeit des Lebens.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen