Sonntag, 25. Juli 2021

Adler und Albatros

Zum 80. Geburtstag von Arnim von Stechow: - Als mein Bruder geboren wurde gaben ihm unsere Eltern den Namen Arnim, der kleine Adler. Als ob sie ahnten, dass er hinauf in die Lüfte steigen würde und weit über uns schwebend Dinge sehen und erleben würde, die nur ein hoher Geist erfassen kann. Vielleicht ahnten sie auch, dass der grosse Geist ein einsamer Mensch ist, nur in der Einsamkeit erfassen wir die Geheimnisse, die das Leben ausmachen. Nur in der Stille jenseits der Erde mit ihrem Trubel entwickeln wir uns zu wahrer Meisterschaft. Und zur Meisterschaft hat sich dieser einsame Adler entwickelt. Einmal aus dem Nest des Elternhauses abgehoben, flog er hoch hinauf, dorthin wo es einsam um uns herum wird. Einsam heisst, EINS mit dem Leben werden, EINS mit den grossen Geheimnissen die das Leben in seiner menschlichen Form offenbart. Bei meinem Bruder war es die Sprache, die sich ihm zeigte, in die er eindrang bis in ihre tiefen Gesetze, die Sprache, die uns Menschen verbindet und für deren Verständnis er mehr tat als alle Menschen vor ihm. Er wurde zu einem Linguisten. In der Einsamkeit der Lüfte entstand ein tiefes Verständnis für das, was uns Menschen miteinander verbindet- die Sprache. Und warum dann die Verkleinerungsform in seinem Namen AR - NIM? Weil er auch als Meister immer der bescheidene Mensch blieb, als der er auf diese Welt kam, er hat sich nie als etwas Besonderes gefühlt. - Und unsere Eltern haben ihm auch einen zweiten Namen gegeben, den Namen Wladimir. Seine Familie und sein Umfeld benutzten diesen Namen im täglichen Gebrauch. Der Name stammt aus der Heimat unserer Mutter und heisst GROSS IN SEINER MACHT. So wie der Adler ein Herrscher der Lüfte ist, hat Arnim die Sprache beherrscht und ist bis tief in die Geheimnisse unseres Sprechens eingedrungen. Seine BAUSTEINE SYNTAKTISCHEN WISSENS gehören heute zum Allgemeingut der Linguistik. Als ob unsere Eltern bei der Namensgebung geahnt hätten, dass ihr Sohn ein grosser Meister seines Faches sein würde. Heute ist dieser grosse Meister verstummt. So wie der Albatros bei Baudelaire auf den Planken des Lebens gelandet ist, und ihn seine Flügel nun behindern, könnte es scheinen als ob der König der Lüfte auf die Erde zurückgekehrt ist . Seine Sprache ist verstummt. - So wie die grossen Physiker an die Grenzen ihrer Mathematik geraten sind, so ist mein Bruder an die Grenzen der Sprache gelangt. Jenseits der Sprache liegt die Stille. Alle Worte und alle Töne der Sprache kommen aus der Stille und kehren in die Stille zurück. Das Schweigen meines Bruders heute deute ich als eine Rückkehr dorthin, wo alles entsteht , an den Ursprung allen Seins. Er ist an die Grenzen seines Wissens gelangt und wenn er schweigt, dann befindet er sich an der Quelle aller Töne, aller Sprache, in der grenzenlosen Stille, aus der jede Sprache und jeder Laut entsteht. Aus der Stille kommen unsere Namen, und dorthin gehen sie, verschwinden mit unserem Gehen aus dieser Welt . Grosses entsteht nur aus der Fülle des Seins, und die Fülle des Seins finden wir nur in dem Raum der jenseits dieser Welt liegt. Menschen , die Grosses schaffen, die Meister ihres Faches, haben ihr Seinsgefühl nicht vergessen, sie haben dort geschöpft, wo alles entsteht und vergeht. Ich zähle meinen Bruder zu den Menschen, die ihre Verbindung mit dem Ewigen nie auf ihrem Weg durch die Welt verloren haben - denn wahre Meisterschaft entsteht nur dort, wo wir uns in den Raum begeben, der hinter den Gedanken dieser Welt liegt, in den Raum des Ewigen, den wir nur in uns selbst finden. Zu seinem 80. Geburtstag danke ich meinem Bruder für sein Menschsein und für das Werk, dass er für die Menschheit geschaffen hat. Er ist in der ewigen Stille angelangt, in dem Raum, wo alles entsteht und alles vergeht, in der Ewigkeit des Seins.

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