Dienstag, 27. Juli 2021

Ohne Zukunft leben

Eine der grössten Errungenschaften des Alters ist es, keine Zukunft mehr zu haben. Endlich begreift der Mensch im Alter, dass er nie eine Zukunft gehabt hat. Seit Menschengedenken lebt der Mensch in den Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und dann kommt irgendwann der Moment, - Mensch du hast keine Zukunft mehr -. Vergessen wird, dass wir nie eine Zukunft hatten. Zukunft war immer nur ein Gedankenkonzept, etwas was wir in unserem Gehirn ausgedacht haben. Das gleiche gilt für Vergangenheit, - auch nur ein Gedankenkonzept. In jedem Menschen ist der Blick ein anderer auf die Vergangenheit, es gibt keine objektive Vergangenheit, nur eine subjektive auf den einzelnen Menschen zugeschnittene. Und jetzt im Alter lässt man die Vergangenheit hinter sich, sie endet ohnehin mit dem eigenen Tod, und man weiss jetzt sicher, dass es keine Zukunft gibt. Ein ganzes Leben haben wir gelebt und sind von Vergangenheit und Zukunft ausgegangen, und haben zu oft die Gegenwart übersehen. Wenn ich jetzt morgens aufwache, dann wache ich in die Gegenwart auf, ich werde mir meines Lebens bewusst. Ein neuer Tag bricht an, ich lebe das Leben das in mir ist, ich lebe wie eine Stubenfliege, summe durch den Tag, vielleicht liege ich abends am Boden, vielleicht kommt ein neuer Tag, es spielt keine Rolle, solange ich das Leben in mir spüre. Dieses Lebensgefühl im Alter ist etwas Neues, es ist nicht das Lebensgefühl der jungen Menschen, die hinaus wollen, in die Welt, etwas erleben, sich verlieben, oder das Lebensgefühl in der Mitte des Lebens, wenn wir eine Familie und Verantwortung haben, - es ist das Lebensgefühl wie bei der wundersamen Brotvermehrung, oder den Lilien auf dem Feld, wir brauchen uns um nichts zu sorgen. Ich wache auf und ich lebe im jetzigen Tag, ohne Gedanken über den Ablauf von Zeit, ohne Gedanken über das Leben, das ich gelebt habe, und auch ohne Gedanken, wie viele Tage ich noch habe. Wichtig ist dieser Moment, dieser Tag, diese Gegenwart, dieses Leben das sich in mir verkörpert, in mir seinen Ausdruck findet. Die Zeit lasse ich hinter mir, sie ist auch eines der vielen Konstrukte meines Gehirns, sie ist auch nicht das Geschenk des Lebens an mich. Es ist das Leben selbst, dass sich mir schenkt, und das Geschenk liegt in der Möglichkeit, das Leben in mir und in allem was mich umgibt wahrnehmen zu können. Und weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft kann ich das Leben wahrnehmen, nur in der Gegenwart, im Jetzt, und das ist das grösste Geschenk an mich, zu erkennen, dass ich nur jetzt das Leben leben kann. Keine Zukunft zu haben ist ein Privileg des Alters.

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