In unserer christlichen Mythologie hat der Mensch Jesus sein
Ego abgeworfen und wurde damit zu Christus, der sich seiner Göttlichkeit
bewusst wurde. Die Religion nennt ihn Jesus Christus, die Verbindung der
menschlichen mit seiner göttlichen Natur. Das gilt nicht nur für den
historischen Jesus, es gilt für jeden Menschen.
Die Erbsünde, die dem Menschen zu eigen sein soll, ist das Ego, das dem
Menschen angeboren ist. Wenn sich das
Ego zwischen Mensch und göttliche Natur schiebt, vergisst der Mensch seine
Doppelnatur, vergisst den wesentlichen Teil von sich, seine Teilhabe an der
Gesamtheit des Schöpfergeistes. Wie soll
aber etwas Sünde sein, was nur Irrtum ist, was wenn die Trennung vom Göttlichen
nicht möglich ist?
Das ewige Leben macht
den wesentlichen Teil von uns Menschen aus, ist das Göttliche von uns. Selbst
wenn das Ego sich die grösste Mühe gibt, die göttliche Natur des Menschseins zu
leugnen, es kann dem Menschen nicht sein Leben erklären. Rätselhaft ist es dem
Menschen, warum der Schöpfergeist den Zweifel, der das Ego bestimmt, überhaupt
geschaffen hat. Kann etwas Sünde sein,
was der Schöpfergeist uns mit auf den Weg gegeben hat? Vielleicht ist die Dualität unseres
Menschseins eine besondere Gnade? Wie
könnten wir Licht ohne Dunkelheit erkennen? Wie könnten wie die Gottheit in uns
wahrnehmen, wenn wir nicht die dunkle Seite in uns hätten? Vielleicht hat die Schöpfung, durch die
Schaffung der Dualität, im Menschen die Möglichkeit geschaffen, sich selbst zu
erkennen. Vielleicht hat der Mensch die Gnade und den Fluch erfahren als
Einziges Geschöpf in der Dualität zu leben, und sich von der Gottheit zu
trennen, um sich der Gottheit in sich bewusst zu werden. So ist das Ego
vielleicht ein Danaer Geschenk, Fluch und Segnung zugleich, das uns vom Schöpfergeist
trennt, ihn verleugnet und gleichzeitig in sich die Fähigkeit birgt, die Leugnung
und Verblendung wieder aufzuheben, um sich des Schöpfergeistes bewusst zu sein.
Es gibt Momente im Leben, in denen der Schleier des Egos
kurz gelüftet wird—Augenblicke von tiefer Erkenntnis, von transzendentaler
Klarheit. Es sind jene seltenen Augenblicke der bedingungslosen Hingabe an das
Sein.
Die Dualität, die der Mensch in sich trägt, ist kein
Widerspruch, sondern ein Spiegel der Schöpfung selbst. Durch das Ego erfährt
der Mensch die Illusion der Getrenntheit, doch gerade in dieser Illusion liegt
das Potenzial zur höchsten Erkenntnis. Wie könnten wir Einssein begreifen, ohne
zuerst die Erfahrung der Trennung gemacht zu haben? Das Ego ist der Prüfstein,
die Herausforderung, die uns nicht zerstören soll, sondern uns die Möglichkeit
gibt, über uns selbst hinauszuwachsen.
Vielleicht liegt die wahre Befreiung vom Ego nicht allein im
Tod, sondern in einem Erwachen noch zu Lebzeiten. In einer vollkommenen Hingabe
an das Jetzt, in einem tiefen Gefühl von Einheit mit allem, was ist. Es gibt
keine Methode, kein Konzept, das diese Wahrheit greifen kann—nur die Erfahrung
selbst kann sie offenbaren.
Nicht jeder wird diesen Zustand in seiner irdischen Existenz
erreichen, doch die Möglichkeit besteht immer. Und vielleicht besteht die
größte Gnade nicht in der völligen Abkehr vom Ego, sondern darin, es zu
erkennen, es zu durchschauen und es als Teil der Reise zu akzeptieren. Denn
selbst der Schatten existiert nur, weil es Licht gibt.
Der Mensch irrt, doch er irrt nicht allein—er wandert auf
einem Pfad, der ihn immer wieder zur göttlichen Erkenntnis führt. Mögen wir
eines Tages wahrhaft erkennen: Das Göttliche war nie getrennt von uns, es war
immer da, in jedem Atemzug, in jeder Bewegung des Lebens selbst.
Per aspera ad astra—nicht nur durch Leiden, sondern durch
Erkenntnis zu den Sternen.
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