Mittwoch, 11. Juni 2025

Ein erfülltes Leben

Goethe hat nicht nur das Gedicht «Prometheus», sondern   auch «Grenzen der Menschheit» geschrieben. Beide Gedichte befassen sich mit unserem Menschschein.

Im Prometheus sind wir der Titan, der sich seine Welt erschafft, nach seinem Bild.  Aber kann das ein anderes Bild sein als das Bild der Gottheit?  Wenn wir unsere eigene Welt erschaffen, sind wir auch nur Teil des Schöpfergeistes. Jeder von uns mit den Begabungen ausgestattet, die uns die Natur mitgegeben hat.  Jede erschaffene Welt ist einzigartig, keine Welt ähnelt der Welt des anderen. Auch Tiere und Pflanzen und auch Planeten haben ihre eigene Welt, sind einzigartig, und ein Jedes stellt eine Welt für sich dar. Alle Welten sind miteinander verbunden, sind Teil des Universums, und die eigene  Welt ist Teil der Gesamtheit aller Welten.

Wenn wir in das Leben aufbrechen, öffnet sich unsere Welt für uns. Es ist eine Welt der unbeschränkten Möglichkeiten.  Es ist an uns, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und die Welt nach unserem Bild zu formen. Wir sind die Titane, die Halbgötter, die diese Welt formen. Der Schöpfergeist ist Teil von uns und gibt uns die Kraft unsere Welt zu gestalten, ein jeder nach seinen Fähigkeiten.

Im Alter blicken wir auf die Welt, die wir geschaffen haben, unser Blick hat sich geweitet. Wir erkennen die Grenzen unseres Lebenswerkes, das mit uns verschwindet, oder von unseren Kindern neu geschaffen werden muss. Aber das Alter weitet auch unseren Horizont, und wir erkennen, dass unsere Welt nur eine Welt von vielen ist, und wir nur ein Teil eines Schöpfungsprozesses sind, der weit über unser menschliches Wahrnehmungsvermögen hinausgeht. Wir sind nur Halbgötter, halb Mensch, halb Teil der Gottheit, Teil der Schöpfung und gleichzeitig Teil der Gesamtheit.

Nur eine kurze Zeitspanne sind wir Teil der Welt, bevor wir zurückkehren in die Gesamtheit.   Für uns Menschen sind 85 Jahre eine lange Zeitspanne, vor der Ewigkeit, nur ein Moment, ein Atemzug.  Es ist die Doppelnatur des Menschen, die es uns ermöglicht, ein Leben in der Zeit, mit einem Leben in der Ewigkeit zu verbinden. Die Schöpfung kennt keine Grenzen, keine Zeit.  Sie ist ganz Schöpfung und gleichzeitig  Gesamtheit.  

Nur wenn der Mensch sich hinauswagt, weit über die Grenzen seines Denkens, kommt er der Wahrheit seines Seins näher. «Denn mit den Göttern soll sich nicht messen der Mensch» - hat Goethe gedichtet. Was aber, wenn der Mensch Teil der Gottheit ist?   Was, wenn der Mensch die Welt formt nach seinem Bilde, und diese Welt Illusion und Wahrheit in einem ist? Ist es nicht das, was die menschliche Natur ausmacht:  Die Grenzen der Welt zu sprengen und Teil der Gottheit zu sein? Sind wir nicht alle ein Teil der Schöpfung und zugleich Teil des Schöpfergeistes, Titanen, wie die Griechen es nannten?

Wenn wir die Welt verlassen, verlässt unsere Welt uns. Im ewigen Kommen und Gehen sind wir Teil der Gottheit, die sich durch uns zeigt und sich mit unserem Gehen wieder verhüllt. Ein erfülltes Leben ist es, wenn wir uns der Gottheit in uns immer bewusst sind  und auch zugleich  unseres Menschseins, - wenn wir erkennen, dass wir ganz Teil der Schöpfung sind und ganz Teil des Schöpfergeistes. Und am Ende unserer Tage erkennen wir, dass mit uns auch unsere Schöpfung endet. Es gibt keinen Grund zu trauern, denn uns bleibt der andere Teil unseres Seins, die Ewigkeit.  Ein erfülltes Leben haben wir gehabt, wenn uns die Doppelnatur unserer Existenz immer bewusst blieb, und wenn wir in dem Wissen gehen, dass wir nur die Welt verlassen, um wieder in unsere eigentliche Heimat zurückzukehren.

 


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