Sonntag, 15. August 2021

Ein Blick in die Vergangenheit

Der Blick in die Vergangenheit ist nur dann sinnvoll, wenn er mich etwas über die Gegenwart lehren kann. Wenn die Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht und Schuld und Hass die Gegenwart vergiften, dann haben wir nicht begriffen, dass Vergangenheit nur ein Gedankenkonstrukt ist, ersonnen von einem fehlgeleiteten Verstand. Ganze Familien leben in der Vergangenheit, sprechen über die früheren guten Zeiten, Völker halten an vergangenen Strukturen fest, nur weil es immer schon so war, Strukturen, aus denen es kaum ein Entrinnen gibt. Der Hass aus vergangenen Kriegen verfolgt uns bis in die Gegenwart und in vielen Teilen der Welt zerfleischen sich die Völker wie eh und je, sie haben nichts dazugelernt. Ganze Berufszweige beschäftigen sich mit der Vergangenheit, wühlen in alten Erinnerungen, verschreiben Mittel, um Schäden aus der Vergangenheit zu beseitigen, alles mit mässigem Erfolg. Die Menschheit sucht nach Erlösung und Befreiung von der Vergangenheit dort, wo sie nicht zu finden ist. Schuld und Sühne in den grossen Dichtungen, Schuld und Sühne in den Gerichtssälen, in den Geschichten der Völker, aber vor allem in unseren Köpfen, ein nicht enden wollendes Thema, das wir Menschen nicht lösen können, solange unser Denken an der Vergangenheit haftet. Die ewig Gestrigen sind zum Unglück verurteilt. Wie können wir im Gestern leben und unsere Gegenwart übersehen? Wie kann ich in der Gegenwart leben, wenn ich ständig an meiner verlorenen Jugend hänge, an meinem Aussehen, das sich ständig wandelt, an Fehlern, die ich früher gemacht habe, an Schuldzuweisungen an Dritte, die mich vermeintlich von meinem eigenen Versagen in der Gegenwart freisprechen. Wenn ich auf ein langes Leben zurückblicken kann, wie absurd wäre es, wenn ich es wie in einem Lebenslauf als Aneinanderreihung von Ereignissen und Daten und angeblichen Leistungen sehen würde. Es wäre dann nicht mehr als eine Todesanzeige, in der mit einem Namen eine Position, ein Titel verbunden wäre, nicht aber das Leben in seiner ganzen Fülle. Wenn die Blicke der Menschen bei runden Geburtstagen, bei Begräbnissen, aber auch meine eigenen Blicke zurückgewandt bleiben, haben wir nichts von der Fülle des Lebens verstanden, einer Fülle, die uns nur in der jeweiligen Gegenwart begegnet und schon vorüber ist, wenn der nächste Moment beginnt. Hat schon jemals der Blick in die Vergangenheit uns die Zukunft gelehrt? - Es reicht ein Blick auf den Zustand der Menschheit, um uns vom Gegenteil zu überzeugen. So wie de Vergangenheit nur ein Gedankenkonstrukt ist und sich in jedem Kopf anders darstellt, so ist die Zeit, die angeblich verflossen ist nur in unseren Köpfen vorhanden. Meine eigene Lebensgeschichte wird erst dann real, wenn ich sie als Aneinanderreihung von Momenten der Gegenwart begreife, als ständige Blicke in die Fülle des Lebens, ohne Anfang und ohne Ende. Wer sein Leben als zeitlich begrenzt begreift, hat noch nicht verstanden zu leben.

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