Samstag, 9. Juli 2022

Das Übersinnliche

In der Wochenendausgabe der FAZ las ich einen Artikel über die Kirchenaustritte.  Als Gründe wurden die Missbräuche, das fehlende Interesse an Religion oder der fehlende Glaube an das Übersinnliche genannt. Wenn der Glaube an das Übersinnliche fehlt müsste ja der Glaube an das Sinnliche vorhanden sein, an das, was die Sinne erfassen können.  Das was die Sinne erfassen,  unser Bild von der Welt, von der Natur, wird den meisten Menschen aber nicht als Glauben, sondern als Realität vorkommen, obwohl es sich in Wirklichkeit um  Illusion handelt. Trotzdem glauben wir an unsere Sinnestäuschung. Weil wir als Realität die Illusion unserer physischen Existenz, ihre Entstehung, ihr Leben und ihren Tod erleben, haben die Religionen die Angst des Menschen vor seiner physischen Vernichtung , durch Jahrhunderte als Basis für ihre Existenz  benutzt. Erst mit der Aufklärung wurde die Macht der Kirchen in der westlichen Welt gebrochen.-   Der Mensch steht aber noch immer vor dem Wunder seines Lebens, seiner Existenz, auch wenn ihm klar ist,  dass sein Leben nicht das ist, was es zu sein scheint. Wo er früher festen Boden unter den Füssen hatte, tut sich Leere auf, der schöne Glaube an heilige Bücher,  an die  Strukturen der Religionsgemeinschaften, an vorgeschriebenen Regeln,  die das Leben beherrschten, war plötzlich der Ernüchterung gewichen.  Niemand ist mehr da,  der einem das Himmelreich  versprechen kann. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen. -   Gerade wenn wir nicht weiterwissen,  ist ein Wendepunkt erreicht, die Möglichkeit sich zurück zu besinnen, auf das was wir sind, auf die  Doppelnatur unseres Menschseins -  ganz von dieser Welt – und ganz aus dem geschaffen, was jenseits von Welt ist. - Religion ist die Rückverbindung  auf die Ebene jenseits der Welt,  Rückkehr zum Leben, aus dem wir entstehen, in das wir vergehen, im ewigen Kreislauf der Zeit.  -Vielleicht helfen uns die leeren Kirchen,  die Leere als  Ausgangspunkt von Allem zu begreifen, den leeren Raum als  das Göttliche, als die schaffende, Allem innewohnende Intelligenz, oder die Stille, die sich ohne Worte verständlich macht, als die mächtigste Sprache des Göttlichen.  Und aus der Leere und der Stille entsteht eine neue Welt, nicht eine Welt in der das Gute vom Bösen bedrängt wird,  sondern  eine Welt in der sich das Sinnliche mit dem Übersinnlichen verbindet, zu einer Einheit wird,  die nicht mehr gesucht werden muss, weil sie schon da ist. Die wunderbaren leeren Kirchen der Vergangenheit  werden so zum Symbol für den Neubeginn. Der leere Raum öffnet sich, aus ihm erwächst die Blüte  einer neuen Menschheit, einer neuen Religion, der Mensch kehrt zurück ins Vaterhaus. Die Leere in den Kirchen mit ihrer Stille  erinnert an die Worte eines Weisen,  der schon vor 2000 Jahren darauf hinwies,  dass die Menschheit das Göttliche erst begreifen wird, wenn  jeder von uns den Tempel des Göttlichen in sich selbst betritt und das Göttliche in sich wahrzunehmen lernt, in der Leere und der Stille, unserer eigentlichen Natur. Die leeren Kirchen und Priesterseminare  weisen uns den Weg dorthin, zum Übersinnlichen, zum  Sein.

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