Donnerstag, 3. November 2022

Ein Blick in die Vergangenheit

Wenn wir älter werden, richtet sich unser Blick häufiger in die Vergangenheit. Dabei ist es durchaus zweifelhaft, ob es  eine objektive Vergangenheit gibt. Es gibt den Blick auf die eigene Vergangenheit und es gibt den Blick des Umfeldes, auf meine Vergangenheit,  von  Kindern, Freunden und Bekannten. Jeder verfügt nur über Bruchstücke meiner Vergangenheit, die er in seinem Gedächtnis festgehalten hat – eine objektive Gesamtschau einer Vergangenheit wird es daher niemals geben, auch nicht der eigenen Vergangenheit. So erscheint die Vergangenheit  nur  als ein Gedankenkonstrukt, das mit den tatsächlichen Gegebenheiten zu einer vergangenen  Zeit wenig zu tun hat. - Auch über die Zukunft brauchen wir nicht zu sprechen, es ist nicht nur  der ältere Mensch der keine Zukunft mehr hat. Es hat noch nie eine Zukunft gegeben hat, es gab immer nur die Gegenwart, das Jetzt  und die Vergangenheit, die   vielleicht länger zurückzuliegen scheint, war auch  nur das Jetzt  in der damaligen Gegenwart, das  sich in jeder Sekunde nur durch ein neues Jetzt fortsetzte. So ist der  Blick in die Vergangenheit trügerisch und bringt uns kaum eine Erkenntnis, was Vergangenheit früher war. -  Natürlich gilt das gleiche auch für die Geschichtsschreibung, - selbst wenn wir die Summe aller Geschichtsschreibungen addieren, wird kaum etwas zustande kommen, was der damaligen Wirklichkeit entsprechen würde und nichts, was wir als Geschichte bezeichnen könnten. -  Natürlich glaube ich, über mich selbst etwas aussagen zu können. Aber kann ich da von Objektivität sprechen, vielleicht blickt mein Umfeld mit ganz anderen Augen auf mein Leben, und muss ich nicht auch das berücksichtigen, was die Anderen über mich denken, und wie sie mein Leben sehen? Könnte die Summe aus meiner Sichtweise und  der Sichtweise meiner Umgebung sich zu einem objektiven Bild meines Lebens zusammenfügen lassen? – Aber wie soll ein Anderer meine Motivation kennen, wie soll er deuten, warum ich mich so und nicht anderes verhalten habe? – Zweifel über Zweifel. - Die Geschichte meines Lebens scheint eher einem Märchen als der Wahrheit zu entsprechen. So scheint es allen reflektierenden Menschen zu allen Zeiten gegangen zu sein. - Wenn ich an den Sinnspruch des Orakels von Delphi denke: «Mensch erkenne Dich selbst!» dann scheint es mir um eine Aufforderung zu gehen, die der Mensch nicht erfüllen kann:  Er kann sich nicht erkennen oder als Paradoxon: Er erkennt, dass er sich nicht erkennen kann. -  Und so wie dieser Spruch über dem Eingang zur Wahrheit stand, so sah auch ein Orakelspruch aus, den ein Besucher erhielt:  Es wurde keine eindeutige Wahrheit verkündet -  Die Wahrheit lag in der Vieldeutigkeit des Orakels. – Natürlich ist die nächste Frage, die ich mir zu meiner Vergangenheit stelle, welches waren wichtige Momente in meinem Leben?  - Vielleicht der Moment, als sich mein Blick nicht mehr so sehr auf  die Welt ausserhalb von mir richtete, sondern in die Welt in mir?  Das wäre dann der Blick auf meine physische Existenz, auf die Welt der Energie, die Welt des ewigen Wandels, der Bereich in mir,  den meine Sinne erfassen können. - Aber dann auch der notwendige Schritt in die Wahrnehmung dessen,  was nicht von den Sinnen erfasst werden kann, die Stille in mir, der Raum in mir. Und dann die Erkenntnis, dass ich das Nichtexistierende in mir nur wahrnehmen kann, weil ich existiere, dass ich vielleicht nur geschaffen bin, weil das  ewige  Nichtwahrnehmbare durch mich wahrnehmbar wird – dass das Nichtexistierende, das was wir Gott  nennen  und der Mensch ineinander fliessen, das Eine ohne das Andere nicht sein kann. -  Wahrscheinlich ist der Moment dieser Erkenntnis der wichtigste in meinem Leben gewesen.  Vielleicht ist das der Moment der Erleuchtung, der Moment in dem wir die Bedeutung des Satzes verstehen  - Erlöse uns von dem Übel -  von der Vorstellung, wir wären nur Welt und nicht das grenzenlos Ewige, und die Vorstellung, es wäre da noch ein Gegenüber,  an den wir diese Bitte richten könnten. -  So ist wahrscheinlich der grösste Moment in meinem Leben,  als ich begriffen habe, dass Leben oder Gott in allem enthalten ist, was existiert, und dass  meine Existenz mit dem  Göttlichen Sein  identisch ist,  dass Welt und Gott in mir und in Allem um mich, eins sind, das eine ohne das andere nicht denkbar. – Ich sollte häufiger einen Blick in die Vergangenheit werfen, das Leben erhält dann eine ganz andere Dimension.

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