Samstag, 15. August 2020

Das Verstummen meines Bruders

Vor zwei Tagen traf ich mich mit meinem Bruder und seiner Frau. Mein Bruder ist verstummt, er hört kaum noch und spricht nur noch das Nötigste. Ihm, der einer der Sprachgewaltigen seiner Zeit war, der eine ganze Generation von Sprachwissenschaftlern geprägt hat, ist die Sprache durch einen Gehirnschlag genommen worden. , So wie das Leben ihm diese besondere Gabe gegeben hat, bis in die grössten Tiefen der Sprache vorzudringen und die Funktionen der Sprache zu entschlüsseln, den Begründer der heutigen Linguistik, hat das gleiche Leben die Sprache wieder genommen. Er spricht nur noch das Notwendige mit seiner Umgebung, hat sich ganz in sein Innerstes zurückgezogen. Es schmerzt mich, meinen Bruder so zu sehen, wir haben uns immer nahe gestanden, und ich hoffe, dass das Leben ihn durch diese Phase gehen lässt, damit er in der Tiefe seines Seins noch Bereiche entdecken kann, die die Sprache ihm nicht geben konnte. Mich erinnert sein Leben etwas an Wittgenstein, der Sprache in der ersten Phase seines Lebens nur ganz wissenschaftlich betrachtet hat und jede Philosophie über das Leben als unsinnig ansah – und dann im weiteren Leben die Sprache als Sprachspiel erkannte und kritisierte, eine Rückkehr vom Äusseren in das Innere, das uns Menschen mit auf unseren Weg gegeben ist. Vor einigen Jahren sagte mein Bruder zu mir, als wir über sein Werk sprachen, dass alle Wissenschaft bedeutungslos sei, auch sein eigenes Werk, das vom Leben und der Zeit überholt und in die Vergessenheit verschwinden wird. Für mich und wahrscheinlich auch für seine Zeitgenossen ist seine Lebensleistung gigantisch und seine innere und äussere Bescheidenheit ehrt ihn. Ich hoffe ihn noch einige Zeit begleiten zu dürfen.

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