Mittwoch, 12. Mai 2021

Das Mädchen und die Fee

Das kleine Mädchen öffnete die Augen. Gerade war es zur Welt gekommen. Und es blickte in die Augen seiner Mutter. Und in den Augen war so viel Liebe, dass es für ein ganzes Leben reichen würde. Und die Mutter blickte in die Augen ihrer Tochter und sie konnte in den Augen bis in den Himmel blicken, denn es war von dort, woher das kleine Mädchen kam. Inzwischen war das Zimmer leer geworden, alle Frauen, die sich um die Geburt gekümmert hatten waren gegangen. Nur eine alte Frau stand noch im Zimmer. Als die Mutter die Anwesenheit spürte, sah sie die Alte fragend an, sie kannte sie nicht und doch kam sie ihr so bekannt vor. Ich bin die Fee an Deiner Seite, die Dein Leben schützt, sage die Alte. Mit der Geburt Deiner Tochter ist das Licht in Dein Leben getreten. Achte gut auf dieses Licht, so wie ich immer auf Dein Leben geachtet habe. Zu Deiner Geburt gebe ich Dir einen Wunsch frei für das Leben Deiner Tochter, wähle gut, denn du hast nur einen Wunsch. Die Mutter dachte nach. Sie war noch so voller Glück und Liebe, dass sie dachte, vielleicht wünsche ich ihr Glück und Liebe, dann aber fiel ihr ein, Glück und Liebe sind uns angeboren, die brauche ich ihr nicht zu wünschen. Vielleicht wünsche ich mir für meine Tochter ein Leben in Wohlstand und Sicherheit - aber ist das ein guter Wunsch? - Ist nicht gerade das Unvorhergesehene die grösste Herausforderung, tötet nicht Sicherheit das wirkliche Leben, das in jedem von uns ist? - Was würde ich mir wünschen, wenn ich für mich den Wunsch frei hätte? Mir wäre wahrscheinlich die Musik das Wichtigste, Musik die mein Kind ein Leben begleitet. - Ich wünsche mir Musik für meine Tochter, sagte die Mutter zur Fee, dass sie das erreicht, was ich mir für mich gewünscht hätte. - Du hast gut gewählt, sagte die Fee, von allen Gütern dieser Welt ist die Musik dem Göttlichen am nächsten, sie ist eine Form, in der Gott zu uns spricht. Musik und Töne kommen aus der Stille und kehren in die Stille zurück, es ist die Stille in der wir Gott begegnen. Ich werde Deinen Wunsch erfüllen, sagte die Fee, vergiss aber nicht, dass alles was wir erhalten nur geliehen ist, wir müssen es den anderen zurückgeben, die nach uns kommen, - so sprach sie und segnete Mutter und Tochter und verschwand. Später dachte die Mutter, sie hätte sich das Gespräch nur eingebildet, eine Folge der Anstrengungen bei der Geburt. Aber die Tochter hatte die Worte in ihrem Herzen bewegt und auch die Gedanken der Mutter, bevor sie den Wunsch aussprach. Sie ging zielstrebig ihren Weg und es war die Musik, die immer an ihrer Seite blieb, als ob die gütige Fee sie nie verlassen hätte. Aber da war doch noch etwas anderes, das sich meine Mutter für mich wünschen wollte - war das nicht Glück und Liebe? - Aber hat mir nicht mein Leben in den vielen Jahren auf dieser Welt nicht immer Glück und Liebe geschenkt ? - aber die Fee hatte auch gesagt, alles was wir als Gaben vom Leben erhalten, müssen wir weitergeben, wie kann ich mein Glück und meine Liebe weitergeben, meiner Familie, meinen Freunden, meinen Kindern? - Und wieder war der Tag da, an dem sich ihre Geburt jährte und sie nahm sich vor, nicht nur ihre Musik und ihre Liebe und ihr Glück weiterzugeben, sich nicht von den Sicherheiten dieser Welt abhalten zu lassen, denn sie dachte an die Gedanken ihrer Mutter, nicht Sicherheit und Wohlstand sind das entscheidende, sondern der Sprung hinein in das Ungewisse, so wie es meine Mutter gemacht hat, den Sprung in das Leben, das wir nur dann spüren, wenn wir uns dem Leben öffnen.

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