Wir haben vollständig unsere Verbindung zum Alter, zu
Krankheit und Verfall verloren. Mit allen Mitteln versuchen wir das Alter
aufzuhalten, natürlich sind wir zum Scheitern verurteilt. So wie das Alter werden Krankheiten als ein Übel
angesehen, das wir am besten ignorieren, werden an Ärzte, an Kliniken überlassen,
so als ob Krankheiten nicht mit uns selbst etwas zu tun hätten, - und unser eigenes Verfallsdatum, das wir sonst
immer im Supermarkt bei unseren
Lebensmitteln sorgfältig prüfen, wird geflissentlich übersehen. Die Gesellschaft sieht das Alter wie eine
Krankheit, am besten werden die Alten versteckt, in dafür eigens geschaffene Heime,
damit wir nicht an das Alter erinnert werden - Das hohe Ansehen, das die Alten in den frühen Zivilisationen genossen haben,
ist wie so manches in Vergessenheit geraten. -
Dabei gewinnen wir gerade im Alter
die Zeit, die wir in jungen Jahren nicht hatten, um uns selbst zu sehen. Der Tag bleibt viel öfter stehen, wir haben mehr Zeit für uns
selbst, unser Blick richtet sich mehr nach innen, als nach aussen. Vielleicht
erkennen wir erst jetzt, welches Wunderwerk
unserer eigener Körper ist, und welche
Kraft noch immer, wie am ersten Tag , in
uns anwesend ist, und uns dieses volle
Leben geschenkt hat. - Und vielleicht fragen wir uns auch, was es ist, das uns
zu dieser Bewunderung fähig macht? Ist das unserer Verstand, oder ist da vielleicht noch etwas in uns, das sich diese Frage stellt? Endlich finden wir im Alter die Zeit , um uns
solche Fragen zu stellen, denn jetzt können wir die Tage anhalten, die früher wie
im Fluge verstrichen sind, wir sind
endlich im Alter bei uns selbst angekommen. Und wenn wir jetzt nicht unser
Leben mit sinnlosen Beschäftigungen füllen,
dann können wir jetzt unseren
Blick nach innen richten, weg von der
Oberfläche, die uns unser ganzes Leben so stark beschäftigt hat, einen Blick in
die Tiefe von uns selbst, in das , was uns
die ganzen Jahre begleitet hat, und dessen Dimension von uns nicht wahrgenommen wurde, in das was uns erfüllt und uns zu dem macht,
was wir sind: Wir nehmen endlich das Wunder des Lebens in uns wahr. Da ist
nicht eine andere Person, die wir in der Tiefe von uns selbst erblicken, wir sind selbst diese Person, die wir unser Leben
nennen, zwei in eins, unser physischer und unser geistiger Körper, der eine ohne den anderen nicht denkbar. - Vielleicht haben wir als alte Menschen in
der Welt unsere Bedeutung verloren, aber wenn wir unsere andere Dimension, unser
eigentliches Leben in uns entdecken,
dann fangen wir an, uns innerlich zu verändern. Neben den äusserlichen Verfall tritt jetzt eine
Qualität der Tiefe, und aus dieser Tiefe fängt das Leben an, nach aussen zu treten. Das
was immer da war, wird sichtbarer. Das
Leben wird sichtbarer, das was wir wirklich sind. - Das
ist das wunderbare am Alter, wenn sich das Leben vollendet: Wir erkennen, dass unser Leben aus der Tiefe
des Seins kommt und ganz in die Welt
hinaus strebt, wo wir vergessen, woher wir kommen und sich dann zurück wendet, bis
an seinen Ursprung, an seine Quelle. Ein ganzes Leben haben wir gebraucht, an
diese Quelle zurückzufinden, erst jetzt sind wir angelangt, dort wo wir schon immer
waren. Es ist die Geschichte vom verlorenen Sohn, der in sein Vaterhaus
zurückkehrt.
Sonntag, 13. März 2022
Krankheit und Verfall
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