In der letzten Zeit stosse ich immer wieder auf Bücher, die
sich mit der Geschichte des letzten Jahrhunderts beschäftigen. Ich bin in
dieses Jahrhundert hineingeboren, mitten
in den Krieg, in das Jahr 1940. - Ich glaubte, immer mehr als die meisten
meiner Zeitgenossen über diese Zeit zu wissen. Und plötzlich häufen sich
Ereignisse, die mich an diese Zeit erinnern, so als ob ein Kapitel meines
Lebens noch nicht abgeschlossen wäre. Ein inzwischen verstorbener Freund,
schenkt mir ein Buch über seinen Vater Ribbentrop, in dem dessen Leben
gerechtfertigt wird. Ich stiess auch auf ein Buch meiner Tante Ingeborg
Breitenbuch, Das Gästehaus, in dem sie die Täter trifft, die sich dem
Nürnberger Tribunal stellen mussten, unter anderen J.v. Ribbentrop, den Aussenminister
des NS-Regimes. Ein anderer Freund
schenkte mir ein Buch von Jonathan Littel, Die Wohlgesinnten. Ich konnte dieses Buch nicht zu Ende lesen, so
entsetzlich sind die Grauen, die darin geschildert werden. Meine Schwägerin
schenkt mir ein Buch von Ulrich Becher, Murmeljagd, in dem es um Emigration
geht, um das heimatlos werden, und in
meiner Bibliothek finde ich zufällig ein Buch, das ich immer zur Seite gelegt hatte,
von Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg. Es ist, als ob das Schicksal an
meine Tür klopft und mich an etwas erinnern will: Du hast noch einen Teil Deines Lebens nicht verarbeitet, es ist Zeit, Dich auch mit Deiner Herkunft zu beschäftigen.
- Ich gehöre von meiner Geburt her
mehreren Völkern an, dem deutschen und dem ukrainischen Volk, und über meine
Urgrossmutter auch dem polnischen, alles
Täter- und Opfervölker. Meine Mutter hat nie über den Tod ihrer Eltern gesprochen, die 1941 nachts vom
KGB abgeholt und ermordet wurden – ich
war gerade ein Jahr alt, - das Verbrechen meiner Grosseltern, sie waren
Akademiker und damit Staatsfeinde. Bis heute wissen wir nicht, wo sie begraben
sind. - Meine Mutter stammte aus Galizien,
aus der Gegend von Lemberg, dem Ort, in dem die westlichen Kulturen und die östlichen sich über Jahrhunderte
friedlich trafen. Die Kirchen in Lemberg und die zerstörte jüdische Synagoge
künden von der friedlichen Vergangenheit und dem Miteinander der Völker. Das
Schicksal meiner Mutter zeigt den ständigen Wechsel der politischen Dominanzen,
sie hatte erst eine österreichische Nationalität, dann eine polnische und
zuletzt eine deutsche, niemals aber eine ukrainische.- Das Schicksal ist grausam
mit diesem reichen Land Galizien umgegangen: Die Ermordung der Intelligenz durch die
Bolschewiken, die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung durch die Nazis,
die Vertreibung und Umsiedlung der polnischen Bevölkerung durch Moskau, die
Verschleppung und Ermordung der ukrainische Bevölkerung, - erst russische ,
dann deutsche Täter. Sechs Millionen Tote nur in Galizien, in Polen und der
Ukraine. Und die Dämonen des Krieges waren damit nicht zufrieden. Die Täter
wurden auch zu Opfern, Millionen von Toten in Russland, Millionen von Toten in
Deutschland. - Und wieder ist der Krieg nach Lemberg zurückgekehrt, in die
ganze Ukraine, als ob es nicht genug Tote im letzten Jahrhundert dort gegeben
hätte. Und wieder werden wir erleben, wie Täter zu Opfern werden, denn der
Krieg wird immer von beiden Seiten verloren,
und wieder wird es tausende von Opfern geben. Als ob die Menschen nie
etwas dazu lernten, als ob die Dämonen des Krieges zu neuem Leben erwacht
wären. – Ich bin vor drei Jahren nach Lemberg in das Land meiner Mutter
gefahren, auch nach Kiew. Ich habe nach den Spuren meiner dortigen Identität
gesucht. Ich werde auch die nicht gelesenen Bücher über die Ukraine zu Ende
lesen. Denn ich werde daran erinnert, dass der Frieden, den ich 80 Jahre
erleben durfte, ein Geschenk an mein Leben war. Wie können wir bloss
verhindern, dass die Schrecken der Kriege in Vergessenheit geraten, und wieder
Völker übereinander herfallen. Ich bin froh, dass ich die Ukraine noch im
Frieden erleben durfte, und ich nehme tiefen Anteil an dem Schicksal dieses
geplagten Landes Ich fühle mich durch
diesen Krieg in meiner Identität persönlich angegriffen und betroffen, und ich muss erneut den Krieg in
mein Leben lassen, den ich zuletzt in meiner Kindheit erlebte. Das Schicksal ist
mächtig und voller Rätsel, und wir müssen bereit sein, uns seinen
Herausforderungen zu stellen, seinen Schrecken, seinen Opfern und vielleicht ist es uns vergönnt, das Schicksal wieder zum Besseren zu wenden.
Freitag, 30. Dezember 2022
Die Macht des Schicksals
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen