Freitag, 30. Dezember 2022

Die Macht des Schicksals

In der letzten Zeit stosse ich immer wieder auf Bücher, die sich mit der Geschichte des letzten Jahrhunderts beschäftigen. Ich bin in dieses Jahrhundert hineingeboren,  mitten in den Krieg, in das Jahr 1940. - Ich glaubte, immer mehr als die meisten meiner Zeitgenossen über diese Zeit zu wissen. Und plötzlich häufen sich Ereignisse, die mich an diese Zeit erinnern, so als ob ein Kapitel meines Lebens noch nicht abgeschlossen wäre. Ein inzwischen verstorbener Freund, schenkt mir ein Buch über seinen Vater Ribbentrop, in dem dessen Leben gerechtfertigt wird. Ich stiess auch auf ein Buch meiner Tante Ingeborg Breitenbuch, Das Gästehaus, in dem sie die Täter trifft, die sich dem Nürnberger Tribunal stellen mussten, unter anderen J.v. Ribbentrop, den Aussenminister des NS-Regimes.  Ein anderer Freund schenkte mir ein Buch von Jonathan Littel, Die Wohlgesinnten.  Ich konnte  dieses Buch nicht zu Ende lesen, so entsetzlich sind die Grauen, die darin geschildert werden. Meine Schwägerin schenkt mir ein Buch von Ulrich Becher, Murmeljagd, in dem es um Emigration geht, um das heimatlos werden,  und in meiner Bibliothek finde ich zufällig ein Buch, das ich immer zur Seite gelegt hatte, von Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg. Es ist, als ob das Schicksal an meine Tür klopft und mich an etwas erinnern will:  Du hast noch einen Teil Deines Lebens  nicht verarbeitet, es ist Zeit,  Dich auch mit Deiner Herkunft zu beschäftigen. -  Ich gehöre von meiner Geburt her mehreren Völkern an, dem deutschen und dem ukrainischen Volk, und über meine Urgrossmutter auch dem polnischen,  alles Täter- und Opfervölker. Meine Mutter hat nie über den Tod  ihrer Eltern gesprochen, die 1941 nachts vom KGB  abgeholt und ermordet wurden – ich war gerade ein Jahr alt, - das Verbrechen meiner Grosseltern, sie waren Akademiker und damit Staatsfeinde. Bis heute wissen wir nicht, wo sie begraben sind. - Meine Mutter  stammte aus Galizien, aus der Gegend von Lemberg, dem Ort, in dem die westlichen Kulturen und  die östlichen sich über Jahrhunderte friedlich trafen. Die Kirchen in Lemberg und die zerstörte jüdische Synagoge künden von der friedlichen Vergangenheit und dem Miteinander der Völker. Das Schicksal meiner Mutter zeigt den ständigen Wechsel der politischen Dominanzen, sie hatte erst eine österreichische Nationalität, dann eine polnische und zuletzt eine deutsche, niemals aber eine ukrainische.- Das Schicksal ist grausam mit diesem reichen Land Galizien umgegangen:  Die Ermordung der Intelligenz durch die Bolschewiken, die Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung durch die Nazis, die Vertreibung und Umsiedlung der polnischen Bevölkerung durch Moskau, die Verschleppung und Ermordung der ukrainische Bevölkerung, - erst russische , dann deutsche Täter. Sechs Millionen Tote nur in Galizien, in Polen und der Ukraine. Und die Dämonen des Krieges waren damit nicht zufrieden. Die Täter wurden auch zu Opfern, Millionen von Toten in Russland, Millionen von Toten in Deutschland. - Und wieder ist der Krieg nach Lemberg zurückgekehrt, in die ganze Ukraine, als ob es nicht genug Tote im letzten Jahrhundert dort gegeben hätte. Und wieder werden wir erleben, wie Täter zu Opfern werden, denn der Krieg wird immer von beiden Seiten verloren,  und wieder wird es tausende von Opfern geben. Als ob die Menschen nie etwas dazu lernten, als ob die Dämonen des Krieges zu neuem Leben erwacht wären. – Ich bin vor drei Jahren nach Lemberg in das Land meiner Mutter gefahren, auch nach Kiew. Ich habe nach den Spuren meiner dortigen Identität gesucht. Ich werde auch die nicht gelesenen Bücher über die Ukraine zu Ende lesen. Denn ich werde daran erinnert, dass der Frieden, den ich 80 Jahre erleben durfte, ein Geschenk an mein Leben war. Wie können wir bloss verhindern, dass die Schrecken der Kriege in Vergessenheit geraten, und wieder Völker übereinander herfallen. Ich bin froh, dass ich die Ukraine noch im Frieden erleben durfte, und ich nehme tiefen Anteil an dem Schicksal dieses geplagten Landes  Ich fühle mich durch diesen Krieg in meiner Identität persönlich angegriffen und  betroffen, und ich muss erneut den Krieg in mein Leben lassen, den ich zuletzt in meiner Kindheit erlebte. Das Schicksal ist mächtig und voller Rätsel, und wir müssen bereit sein, uns seinen Herausforderungen zu stellen, seinen Schrecken, seinen Opfern und vielleicht ist es uns vergönnt, das Schicksal wieder zum Besseren zu wenden. 

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