Dienstag, 2. Mai 2023

Die Mutter 2

Die  Nachkriegszeit  ist schon Teil meiner bewussten Erinnerungen.  Die davorliegende Zeit kenne ich nur aus den Erzählungen der Eltern. Die Eltern trafen sich, auf getrennten Wegen,  1945 wieder in Reinbek bei Hamburg, der westlichen Besatzungszone. Sie wurden dort in einer Flüchtlingswohnung untergebracht. Meiner Mutter gelang es bald wieder als Journalisten zu arbeiten, beim Hamburger Abendblatt. Zwei Kindermädchen machten das möglich.  Unser Vater arbeitete bis 1950 bei der Deutschen Presseagentur. Die Nachkriegsjahre waren die schwierigsten Jahre, weil die Lebensmittelkarten nicht reichten und  nicht ausreichend Nahrung zur Verfügung stand. Immerhin gelang es, vor allem meiner Mutter, so viel Nahrung zu beschaffen, dass wir nicht verhungerten. Ein kleiner Gemüsegarten, den sie angepachtet hatten, half dabei sehr.  Ihre beiden, in der Ostzone, zurückgelassenen Kinder, meinen Bruder Arnim und mich, holte sie einzeln, unter Lebensgefahr, schwarz über die Zonengrenze, auch in den Westen. - Erst 1950 änderte sich unser Leben, mit der Berufung des Vaters als Konsul nach Mailand. Es war wahrscheinlich ein neuer Lebensabschnitt für unsere Mutter, jetzt nur noch als Ehefrau für die Familie da zu sein. Die Zeit in Mailand brachten Ruhe in unser Leben, die Schrecken des Krieges und der Mangel der Nachkriegszeit fielen von uns ab. Auch in unserer Mutter konnte man den  neuen Frieden merken, sie war zum ersten Mal nicht mehr für das Überleben der Familie verantwortlich, sondern konnte sich ganz der Familie widmen. Sie vermisste noch ihren Beruf,  aber die Hinwendung zu ihrer Familie tat nicht nur ihr gut, sondern uns allen. Ihr Leben war in ruhiges Fahrwasser geraten, das bis zum Tod  ihres Mannes nach der Pensionierung andauerte. Ab 1950 hatte sie sich entschlossen ihr Leben ganz der Familie zu widmen, auch wenn ihr immer eine leichte Trauer  in den Gedanken an ihre Berufszeit anhaftete. Sie kümmerte sich um uns alle, um die Familien ihrer Kinder, die Enkelkinder.  Den zunehmenden Verlust ihrer Hörfähigkeit nahm sie gelassen hin. Sie hörte nur noch, was sie hören wollte. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie noch mehr als 10 Jahre allein, sehr belesen, sehr interessiert an den Dingen der Welt, aber auch immer mehr der transzenten Seite unseres Menschseins zugewandt. Sie konnte auf ein reiches und erfülltes Leben zurückblicken.  Ich hatte das Privileg die letzten Tage in Teneriffa mit ihr und meiner Familie zusammen zu sein. Als wir merkten, dass eine Magenverstimmung  sie immer mehr schwächte, brachte ich sie in das Krankenhaus nach Sta Cruz. Ich sehe sie noch heute, wie sie am Tropf in ihrem Bett mich bei unserem Abschied ansah. Sie wusste, dass sie sterben würde, ich wusste es nicht. Sie starb noch in der gleichen Nacht an Herzversagen. Ich habe ihren letzten Blick nie vergessen.


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