Dienstag, 2. Mai 2023

Erinnerungen 3 - Die Mutter 1

Unsere Mutter wurde 1903  in Tysmenicza  bei Ivano Frankivsk  in Galizien als Österreicherin geboren und auf den Namen Olga Maria getauft. Galizien war die östliche Provinz von Österreich, in dem sich die Kulturen der Völker aus Polen, Ukrainern, Juden und Armeniern und Deutschen  gegenseitig befruchteten. Ihre Eltern waren eine Lehrerfamilie, und sie wuchs  mit dem Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben als Frau zu führen.  Ihre Mutter, meine Grossmutter, starb schon in jungen Jahren an Tuberkulose.  Der Vater heiratete neu , und die neue Frau war eine gute Ersatzmutter. Es gab noch einen Bruder Wlodko aus  der 1. Ehe und eine Stiefschwester Slawca.  Beide emigrierten in die USA.  Als 1918 die Polen Galizien annektierten stand für ihre Familie fest, dass sie nach Deutschland gehen sollte, um  dort zu studieren. 1921 kam sie nach Berlin und studierte Volkswirtschaft. Dort lernte sie unseren Vater kennen, der sie fast das ganze Studium in  jeder Hinsicht unterstützte. Sie musste sich ihr Studium selber verdienen, das Lehrergehalt ihrer Eltern reichte dazu nicht aus. In ihrem Tagebuch steht, sie kam nur mit einem Koffer nach Berlin und einem Goldstück, das ihr Vater ihr mitgab. Sie kam aber voller Mut und Zuversicht, und dieser Mut verliess sie ihr ganzes Leben nicht. Nach dem Studium ging sie als Journalistin  in den Moshe Verlag, später Ullstein, in Berlin. Sie  arbeitete für die Zeitschrift «Die Dame», die grösste  europäische Frauenzeitschrift ihrer Zeit. Das Verzeichnis der Mitarbeiter liest sich wie eine Liste der Geistesgrössen der zwanziger Jahre. Auf alten Fotos trägt sie einen Pagenkopf, sie war zu einem Kind ihrer Zeit und der Berliner  Welt geworden.  Zu ihren intellektuellen Freunden gehörte Rowohlt, Walther Kiaulehn, Albert Schäfer- Ast, mit ihnen traf sie sich zum wöchentlichen Stammtisch bei Witwe Bolte. Sie war eine der ersten Frauen, die ein eigenes Auto hatten, den berühmte Opel 4 PS Laubfrosch.  Es waren die ereignisreichsten Jahre ihres Lebens. Mit unserem Vater war sie die ganzen Jahre befreundet, sie wollte aber lange ihre Unabhängigkeit erhalten. Erst mit der Machtergreifung 1933  beschlossen beide zu heiraten, um den Benachteiligungen von Ausländern zu entgehen. Als Angehöriger des Auswärtigen Amtes brauchte unser Vater die Genehmigung, eine Frau mit polnischer Staatsangehörigkeit zu heiraten. Die Genehmigung wurde verweigert, die Rassenpolitik hatte ihren Einzug in Deutschland gehalten. Unser Vater wurde umgehend nach Australien versetzt, wo er vier Jahre blieb, damit er sich die Gedanken an Heirat aus dem Kopf schlagen sollte. Besuche waren praktisch nicht möglich, da nur der kostspielige Seeweg zur Verfügung stand, der 2 Wochen dauerte. Nach seiner Rückkehr war mein Vater mehr denn je  zur Ehe entschlossen. 1938 heirateten die Beiden.  Das war ein klarer Verstoss gegen das Heiratsverbot des AA und der Einbruch in die Karriere des Vaters. - Wenn unser Vater schon ein entschlossener Mensch war, dann unsere Mutter nicht minder. Sie liessen sich von den neuen Machthabern nichts vorschreiben. -  Auf der Hochzeitsreise nach Sizilien im Zug stritten die beiden wie ein altes Ehepaar. Als der Zug vor einem Signal  stehenblieb stieg unsere Mutter kurz entschlossen aus und lief auf den Gleisen zurück, sie wollte die Reise nicht fortsetzen. Ihr Mann lief hinterher und versuchte sie zur Vernunft zu bringen. Es gelang ihm schliesslich und nur knapp erreichten sie wieder den Zug, der sich kurze Zeit später wieder in Bewegung setzte. Beide hatten eine starken Charakter. -  1940 kam ich als erstes Kind zur Welt.  Deutschland befand sich bereits im Krieg mit Halbeuropa. In den von  Hitler an Stalin abgetretenen Ostgebieten haten sich die Russen festgesetzt. 1940 wurden auch die Eltern unserer Mutter nachts vom KGB abgeholt und erschossen, sie gehörten zur Intelligenz und waren daher Gegner des Kommunismus. 1941 kam mein Bruder Arnim und 1943 mein Bruder Andreas zur Welt. Die Frauen mussten ihr Leben auf Kriegswirtschaft umstellen. Unsere Mutter arbeitete im Verlag weiter, jetzt aber für die Propagandazeitschrift  «Signal»  für die besetzten Ostgebiete. Für uns Kinder hatte sie 2 Hilfen aus ihrer ukrainischen Heimat anstellen können, die damit dem Zwangsarbeitsdienst entkommen konnten. Erst 1943 gingen wir aus Berlin fort nach Ranis in Thüringen zu ihren Schwiegereltern, wo unser Bruder Andreas zur Welt kam. 1945 bei Kriegsende waren wir auf der Burg  Ranis, und bei Übergabe von Thüringen an die Russen musste  unsere Mutter mit dem jüngsten Bruder fliehen, ihre Tätigkeit beim Signal hätte sie sofort zum Tode verurteilt.

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