Es steht mir nicht zu, über lebende Personen zu schreiben.
Daher beschränke ich diese Erinnerungen auf meine und die Generation vor
uns. Ich hatte das Glück, als Ältester
von 3 Geschwistern, mit zwei besonderen Menschen aufzuwachsen. Wichtig war,
dass uns kein grosser Altersunterschied trennte, meine Mutter war schon 37 als
ich als Erster zur Welt kam und sie war 40
als Andreas 1943 geboren wurde. Was heute eher normal erscheint, war
damals schon eine späte Geburt.
Mein Bruder Arnim war schon früh den Geisteswissenschaften zugewandt.
Als wir in Mailand lebten gingen wir zusammen über einen antiquarischen
Büchermarkt. Er sah ein Buch das ihn interessierte, bat mich, ihm 100 Lire zu
leihen, um es zu kaufen. Er war 10 Jahre
alt – es war eine koptische Grammatik.
Er wolle sie in den Schulferien lernen sagte er – und er tat es. Er war nie gross an Äusserlichkeiten
interessiert. Zu seiner Antrittsvorlesung als Professor in Konstanz lieh er
sich eine Anzugsjacke von mir, er besass keine eigene. Seit früher Jugend lebte
schon sein Geist in anderen Welten und sein Studium dauerte länger als gewöhnlich.
Er überraschte uns alle, als ich ihn eines Morgens anrief, ihn in einer Bibliothek
in Münster erreichte, und er mir mitteilte er hätte geheiratet. Wir freuten uns
für ihn, waren aber etwas traurig, wir hätten die Hochzeit gerne mit ihm
gefeiert. Arnim wurde zum führenden Linguisten seiner Zeit. Er erhielt den Lehrstuhl
für Linguistik der Universität Tübingen.
Seine schriftlichen Werke wurden wegweisend weit über Deutschland hinaus. Er
schrieb entscheidende Lehrbücher, über Semantik, zur generativen Grammatik und
Syntax, zu den Bausteinen syntaktischen Wissens. Seine Kollegen bestätigten mir,
dass er zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seines Bereichs gehörte. Von uns
drei Brüdern, war er der gebildetste, sprach 16 Sprachen, war tief in die
Philosophie und Mathematik eingestiegen – wir Brüder waren immer stolz auf ihn.
Er fühlte sich nicht nur in Bibliotheken
und Seminaren wohl, sehr gerne fuhr er mit seiner Familie ins
Tessin in sein Rustico, das man nur mit einem beschwerlichen Fussmarsch
erreichen konnte. Wir haben dort schöne Tage miteinander verbracht. Heute hat
ein Gehirnschlag diesen grossen Geist zum Schweigen gebracht. Er verbringt seine Tage mit seiner Frau Franzis, die seit seiner Zeit
in Münster, immer an seiner Seite gewesen ist. Wenn ich meinen Bruder heute treffe, fühle ich die
gegenseitige tiefe Verbundenheit zwischen uns, ich bin immer sein grosser
Bruder geblieben.
Mein Bruder Andreas kam als Jüngster am Ende des Krieges zur
Welt. Er litt vor allem unter dem Nahrungsmangel der Nachkriegszeit. Er
brauchte besonders seine Mutter und vertrug es nicht von zuhause getrennt zu
sein. Er ging auch mit meinen Eltern
nach Kopenhagen, als wir anderen Brüder auf ein Internat kamen, um uns auf das
Abitur vorzubereiten. Zu meinem Vater hatte er ein besonderes Verhältnis, er
war ihm am ähnlichsten. Andreas schlug
dann auch den gleichen Berufsweg des Vaters ein. Andreas war dreimal
verheiratet. Aus seiner ersten Ehe stammt sein Sohn Konstantin. Seine zweite Frau, eine französische Physikerin,
starb früh und ich erinnere mich, wie ich
bei ihrem Begräbnis in den französischen Alpen, ihren kleinen Sohn Adrian in den
Armen hielt und wir den Psalm hörten, der von der Hilfe spricht, die von den Bergen
kommt. Andreas fand in Junko, einer japanischen Sängerin, noch einmal eine späte Liebe. Junko wurde für Adrian eine
wunderbare Mutter. Die neue Familie war noch gemeinsam auf den letzten Botschafterposten
in Thailand und der Schweiz. Andreas starb viel zu früh an einem zu spät
entdeckten Darmleiden. Auch hierin hatte er das gleiche Schicksal unseres
Vaters, der früh an seinem Lungenleiden starb. Bis zuletzt hatte ich ein tiefes
Vertrauensverhältnis zu Andreas. Er war unser jüngster Bruder und stand mir
immer besonders nah. Er liegt in Stechow
in unserem Familienbegräbnis. Auf dem Grabstein steht auch der Name von Junko, sie möchte mit ihm gemeinsam begraben werden.
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