Dienstag, 2. Mai 2023

Erinnerungen 4 - Die Geschwister

Es steht mir nicht zu, über lebende Personen zu schreiben. Daher beschränke ich diese Erinnerungen auf meine und die Generation vor uns.  Ich hatte das Glück, als Ältester von 3 Geschwistern, mit zwei besonderen Menschen aufzuwachsen. Wichtig war, dass uns kein grosser Altersunterschied trennte, meine Mutter war schon 37 als ich als Erster zur Welt kam und sie war 40  als Andreas 1943 geboren wurde. Was heute eher normal erscheint, war damals schon eine späte Geburt.

Mein Bruder Arnim war schon früh den Geisteswissenschaften zugewandt. Als wir in Mailand lebten gingen wir zusammen über einen antiquarischen Büchermarkt. Er sah ein Buch das ihn interessierte, bat mich, ihm 100 Lire zu leihen, um es zu kaufen.  Er war 10 Jahre alt – es war eine koptische Grammatik.  Er wolle sie in den Schulferien lernen sagte er – und er tat es.  Er war nie gross an Äusserlichkeiten interessiert. Zu seiner Antrittsvorlesung als Professor in Konstanz lieh er sich eine Anzugsjacke von mir, er besass keine eigene. Seit früher Jugend lebte schon sein Geist in anderen Welten und sein Studium dauerte länger als gewöhnlich. Er überraschte uns alle, als ich ihn eines Morgens anrief, ihn in einer Bibliothek in Münster erreichte, und er mir mitteilte er hätte geheiratet. Wir freuten uns für ihn, waren aber etwas traurig, wir hätten die Hochzeit gerne mit ihm gefeiert. Arnim wurde zum führenden Linguisten seiner Zeit. Er erhielt den Lehrstuhl  für Linguistik der Universität Tübingen. Seine schriftlichen Werke wurden wegweisend weit über Deutschland hinaus. Er schrieb entscheidende Lehrbücher, über Semantik, zur generativen Grammatik und Syntax, zu den Bausteinen syntaktischen Wissens. Seine Kollegen bestätigten mir, dass er zu den bedeutendsten Wissenschaftlern seines Bereichs gehörte. Von uns drei Brüdern, war er der gebildetste, sprach 16 Sprachen, war tief in die Philosophie und Mathematik eingestiegen – wir Brüder waren immer stolz auf ihn. Er fühlte sich nicht nur in  Bibliotheken  und Seminaren wohl,  sehr gerne fuhr er mit seiner Familie ins Tessin in sein Rustico, das man nur mit einem beschwerlichen Fussmarsch erreichen konnte. Wir haben dort schöne Tage miteinander verbracht. Heute hat ein Gehirnschlag diesen grossen Geist zum Schweigen gebracht.  Er verbringt seine Tage  mit seiner Frau Franzis, die seit seiner Zeit in Münster, immer an seiner Seite gewesen ist. Wenn ich  meinen Bruder heute treffe, fühle ich die gegenseitige tiefe Verbundenheit zwischen uns, ich bin immer sein grosser Bruder geblieben.

Mein Bruder Andreas kam als Jüngster am Ende des Krieges zur Welt. Er litt vor allem unter dem Nahrungsmangel der Nachkriegszeit. Er brauchte besonders seine Mutter und vertrug es nicht von zuhause getrennt zu sein.  Er ging auch mit meinen Eltern nach Kopenhagen, als wir anderen Brüder auf ein Internat kamen, um uns auf das Abitur vorzubereiten. Zu meinem Vater hatte er ein besonderes Verhältnis, er war ihm am ähnlichsten.  Andreas schlug dann auch den gleichen Berufsweg des Vaters ein. Andreas war dreimal verheiratet. Aus seiner ersten Ehe stammt sein Sohn Konstantin.  Seine zweite Frau, eine französische Physikerin,  starb früh und ich erinnere mich, wie ich bei ihrem Begräbnis in den französischen Alpen, ihren kleinen Sohn Adrian  in den  Armen  hielt und  wir den Psalm hörten,  der von der Hilfe spricht, die von den Bergen kommt. Andreas fand in Junko, einer japanischen Sängerin, noch einmal eine  späte Liebe. Junko wurde für Adrian eine wunderbare Mutter. Die neue Familie war noch gemeinsam auf den letzten Botschafterposten in Thailand und der Schweiz. Andreas starb viel zu früh an einem zu spät entdeckten Darmleiden. Auch hierin hatte er das gleiche Schicksal unseres Vaters, der früh an seinem Lungenleiden starb. Bis zuletzt hatte ich ein tiefes Vertrauensverhältnis zu Andreas. Er war unser jüngster Bruder und stand mir immer besonders nah. Er liegt  in Stechow in unserem Familienbegräbnis. Auf dem Grabstein steht auch der Name von Junko,  sie möchte mit ihm gemeinsam begraben werden.


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