Donnerstag, 2. September 2021

Mein feines Gehör

Wahrscheinlich denkt meine Umwelt ich höre im Alter schlechter. Meine Hörhilfe scheint das anzudeuten. Tatsächlich ersetzt eine Hörhilfe nicht ganz das feine Gehör der Jugend. Umso mehr wundert es mich, dass viele Menschen mit gutem Gehör sich mit ständigem Lärm zudröhnen, ständig mit Kopfhörern am Ohr, oder die Dauergeräusche von Fernsehern oder Musikanlagen. Alles das entgeht mir weitgehend und dennoch höre ich im Alter weit mehr als in meiner Jugend. Ich habe gelernt die Stille zu hören. Erst in der Stille erschliesst sich mir die Welt der Töne, die Welt der Sprache, die Welt der Musik. Die Stille ist um mich, die Stille ist in mir und gleichzeitig ist die Stille der Bereich der unbegrenzten Möglichkeiten, wenn ich etwas hören will. Denn alle Musik und alle Sprache und jedes Geräusch kommt aus der Stille und kehrt in die Stille zurück. Ich berühre eine Klangschale, ein Ton schwillt an, ebbt ab und kehrt dorthin, woher er kam. Wahrscheinlich hat unsere Welt die Fähigkeit verloren, die Stille als den Bereich des wichtigsten Hörens zu begreifen. Denn wenn wir genau hinhören, dann können wir in der Stille alles hören, was je gesagt wurde, alle Töne die je gespielt wurden, wir erleben in der Stille das Ewige, Unendliche, Unsagbare und Unhörbare. So muss Beethoven gehört haben, als sein Gehör ihn verliess und er zum Instrument der Stille wurde. Auch ich lerne erst im Alter mein feines Gehör zu schätzen, es hört Dinge, die ich früher nicht wahrnahm.

Keine Kommentare: