Freitag, 24. September 2021

Sind wir alle dement?

Vor einigen Tagen besuchte ich einen alten Schulfreund in Madrid. Seine Lebensgefährtin hatte mich informiert, dass er unter Demenz leide. Ich fand ihn eigentlich recht fröhlich vor, wie in alten Tagen. Er erkannte mich und wir erzählten uns Geschichten aus alten Zeiten. - Ich hatte natürlich über Demenz nachgelesen. Dementia auf Latein bedeutet Wahnsinn. Die kognitiven Fähigkeiten lassen in den verschiedenen Erscheinungsformen nach, das Gehirn schrumpft, das Erinnerungsvermögen wird weniger, meine Sinne lassen nach. - Seit Jahren beschäftige ich mit der Illusion der Sinne, mit unserer beschränkten Wahrnehmung, die uns eine Welt zeigt, die aus anderen Perspektiven ganz anders aussieht. Die Welt aus der Perspektive anderer Lebewesen, die Welt aus der Perspektive dieses Planeten, die Welt in Raum und Zeit. Unsere Sinne sehen die Welt nur im Rahmen unserer Möglichkeiten, was wir sehen sind Bruchstücke und trotzdem befinden wir uns in dem Wahn, unsere Sichtweise wäre die einzig wahre. Leidet nicht die ganze Menschheit an dieser Art Wahnvorstellung, an einer Art Demenz? - Allein die Vorstellung von Zeit - beschäftigt sich unser Gehirn nicht unaufhörlich mit der Vergangenheit und Zukunft? - Dabei ist die Vergangenheit ein reines Gedankenkonstrukt des Gehirns und hat wenig mit der Realität zu tun, und erst recht die Zukunft, die unser Gehirn uns vorgaukelt, und von der keiner weiss, wie sie wirklich aussieht? Das ist doch auch nichts anderes als ein Wahn der Sinne. Aber da alle in diesem Wahn leben, gilt der Wahn nicht als Wahnsinn. Natürlich wünschen wir uns nicht ein Nachlassen unserer kognitiven Fähigkeiten, aber ein Verlust der Illusion unserer Vergangenheit scheint mir gar nicht so schlimm zu sein und das, was wir Zukunft nennen gibt es ohnehin nicht, wenn wir einmal die 80 überschritten haben. Das ist eine der Segnungen des Alters, dass wir in der Gegenwart angekommen sind. Die Vergangenheit verblasst und wird zu einer Schimäre die am Horizont verschwindet. Zeit verliert ihre Bedeutung. Ich zähle nicht mehr die Tage und Jahre. Jeder Tag ist der schönste in meinem Leben. Die Zeit bleibt stehen, ich geniesse die Momente, und erst jetzt habe ich den Punkt erreicht, wo ich begreife, was Leben ist, und ich begreife auch die Dimension der Tiefe in mir, die ich so viele Jahre vor lauter Gedankenstress vernachlässigt habe. Vor allem sehe ich das Leben in meinen Gefährten, sehe wie sie noch an der Oberfläche festhalten und wünsche mir, dass sie auch lernen anzuhalten. – Die Weisen lehren uns, einen Zustand zu erreichen, der dem der Demenz gleicht. Namen, Rang, Ansehen ablegen, den Vergnügungen, Lastern und dem Zeitvertreib entsagen und sich dem widmen, was uns wirklich ausmacht - dem Leben in uns und dem Leben um uns. Aber wer hört schon auf den Rat der Weisen. Es beginnt mit dem Anhalten des Gedankenrades im Kopf, dem Ankommen in der Gegenwart, dem Anhalten der Zeit, und der Wiederentdeckung unserer Dimension der Tiefe. Solange wir nicht diesen Weg für uns entdecken, sind wir alle dement.

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